„Sie hatte gewartet. Auch wenn es ihr nicht bewusst gewesen war, hatte sie Tage und Nächte durchwacht, in Erwartung jenes Prinzen, der sich nach nunmehr hundert Jahren durch die Rosen kämpfte, die ihr Gefängnis voll Hohn in einen Garten verwandelt hatten, und der sie und all die anderen befreien sollte. Ja, sie hatte gewartet, eine halbe Ewigkeit, hatte ihr junges Leben mit nichts anderem verbracht, und nun endlich sollte der Augenblick gekommen sein. Mit stolz geschwellter Heldenbrust drang der junge Mann Hieb um Hieb immer weiter vor, der Rosen Glaube an ihre ewige Existenz Lügen strafend und ihnen die Herrschaft über das Schloss streitig machend. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er schien nicht vorwärts zu kommen! Unermüdlich rückten die Rosen vor und hinter ihm wieder zusammen, bis er schließlich selbst gefangen war! Was nun? Wie sollte er je die Prinzessin aus ihrer langen Ohnmacht retten? Als der Prinz merkte, wie ihm geschah, war es bereits zu spät; verzweifelt und mit immer schwächer werdenden Hieben versuchte er sich gegen die Rosen zur Wehr zu setzen, die nun ihr wahres Gesicht offenbarten, jene giftigen Dornen hinter den ach so berauschend schönen Blüten. Es sah hoffnungslos aus für den mehr und mehr ermüdenden Prinzen und die völlig hilflose, schlafende Prinzessin, die sich so nah waren und doch so weit entfernt."
»Und?«
»Wie 'und'?«
»Na wie geht es weiter? Die Geschichte! Wie endet sie?« Erwartungsvoll sah das kleine Mädchen den alten Mann aus großen Augen an. Der Alte schmunzelte.
»Aber du kennst die Geschichte doch. Ich habe sie dir sicher schon tausend mal erzählt. Du weißt ganz genau, wie sie endet.« Er wollte das kleine Mädchen von seinem Schoß heben, doch sie schob seine Hände zurück, drehte sich um und bedachte ihn mit einem Blick, der ihm beinahe wohlwollend erschien.
»Du sollst sie mir aber trotzdem erzählen! Ist doch egal, das ich sie schon kenne. Wenn du sie nicht erzählst, ist es nicht dasselbe. Dann ist sie nur halb so schön. Bitte!« In ihren drängenden Tonfall hatte sich ein quengeliger Unterton gemischt, und sie wackelte ungeduldig auf dem Schoß des Alten herum.
»Na schön, na schön, ist ja gut«, lachte er mehr als er sagte, und die Augen der Kleinen weiteten sich zu seiner Überraschung noch mehr. Sie glänzten vor vollkommener, kindlicher Freude und ihr Lächeln war das grundehrlichste, das man sich nur vorstellen konnte. Immer noch schmunzelnd fuhr der Alte mit der Geschichte fort, die er an diesem Tage noch dreimal erzählen sollte, bis das kleine Mädchen dann schließlich auf seinem Schoß eingeschlafen war.________________________________________________________________________________
Die junge Frau hatte augenscheinlich geweint. Ihr MakeUp war verwischt, der Saum ihres schwarzen Kleides zerknittert, als hätte ihn jemand zur Beruhigung wieder und wieder unbewusst durchgeknetet, und sie schluchzte noch immer leise vor sich hin. Sie stand als letzte vor dem frischen Grab, nicht im Regen, wie es hätte sein sollen an diesem traurigsten aller Tage, sondern im strahlenden Schein einer kraftvollen Maisonne, doch das störte sie nicht. Sie wusste, dass das gute Wetter dem Verschiedenen gefallen hätte. Sie hatte allein sein wollen mit ihm, hatte gewartet, bis alle anderen über den gepflegten Rasen des Friedhofs zurückgestapft waren zu ihren Autos, zurück in ihr normales Leben, das nun einfach so weitergehen würde wie zu vor. Auch der junge Frau war der Vorschlag gemacht worden, einfach normal weiter zu machen, doch diese Vorstellung war bei ihr auf völliges Unverständnis gestoßen. Wie konnten sie denn ernsthaft erwarten, sie könne das alles so einfach hinter sich lassen und wieder zur gewohnten Tagesordnung zurückkehren? Nein, sie war sich sicher, sie würde wieder kommen, jedes Wochenende, so wie sie es früher getan hatte, würde sich um das Grab kümmern und dabei erzählen. Keine Geschichten, sie wusste, sie würde niemals so wundervoll Welten aus dem Nichts erschaffen und Menschen und Tieren Leben einhauchen können wie der alte Mann es getan hatte, aber das hielt sie nicht auf. Sie würde ihre eigene Geschichte erzählen, was sie erlebte, was ihr Sorgen bereitete, worüber sie lachte. Und dann würde sie einfach dasitzen und lauschen, worüber der Alte zu berichten wusste, welche Geschichten ihm der Wind zugetragen, was ihm die Blumen erzählt hatten. Und sie würde wissend lächeln, bei jedem Wort, das sie niederschriebe auf dem mitgebrachten Papier, denn ihr war klar, welche Freude sie so jenen Kinder würde bereiten können, die nicht das Glück gehabt hatten, auf dem Schoß des Alten Platz gefunden zu haben. Und sie wusste, tief in ihrer Seele, das auch der Alte, in welcher Geschichte auch immer er sich verloren haben möge, in diesem Moment innehielt beim Erschaffen seiner Wunderwelten - und lächelte.
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Sommerregen
PoesiaTropfen, die prasseln An Fenster und Türen Kleine wie Große Zum Planschen verführen Wärme und Nässe Und zeitloses Glück Tropfen des Sommers Zwei Lachen das Stück Was ich damit sagen will: Poesie lässt sich immer und überall finden, und wer sie in s...