Die erste Aufgabe, die sie hatte bewältigen müssen, war erledigt. Das Traumgespräch war erfolgreich gewesen und die hundert prozentige Sicherheit geliefert, dass er der Richtige war. Nicht dass sie daran auch nur eine Sekunde gezweifelt hatte, aber der Rat durfte, nein, er musste keine Zweifel haben. Sie hasste diese Art von Kommunikation, das Gefühl die gleiche Person wie ihr Anführer zu haben, fühlte sich für sie jedes Mal so an, als würde zwischendurch eine ekelhaft, schleimige Hülle jeden Zentimeter ihres Körpers berühren. Die Erinnerung an die letzte Nacht ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Andererseits war sie stolz auf sich. Wie viele Ihresgleichen Ewigkeiten gebraucht hatten um ein solches Gespräch führen zu können. Für sie aber, war es ein Leichtes gewesen die Kunst des Weltenträumens zu erlernen. Und er, ja, er schien wirklich sehr an ihr zu hängen. Sie lächelte über Oberflächlichkeit dieses Jungens. ‚Geh nicht weg! Wer bist du, wie heißt du, wo kann ich dich finden?‘ Geklungen wie ein kleines Kind hatte er. Ein kleines dummes Kind, das trotzdem denkt es wäre überlegener, als jeder andere.

Sie war allein in ihrem Zimmer und betrachtete durch das große Panoramafenster, wie ein dünner, aber durchdringender Nieselregen die Außenwelt schmückte. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Sie war für die Situation, die genau gestern Mittag begonnen hatte, ausgebildet worden. Nur für den Moment, dass der Regen einsetzten würde. Und trotzdem konnte sie es einfach nicht wahr haben, dass es losging. Einerseits hatte sie furchtbare Angst, aber es schien fast so, als ob die begierige Vorfreude alle Angst einfach verdrängen wollte. Nur dass ER dazwischen geraten musste war wirklich ärgerlich. Natürlich gab es zwischen diesen zwei Ereignissen einen gewissen Zusammenhang, aber trotzdem war sie entsetzlich genervt von ihm, ohne ihn überhaupt näher zu kennen. Er war genau der Typ dem jedes Mädchen hinterher lief, gestylt wie aus einem Markenkatalog, aber oberflächlich wie das Glatteis auf den Straßen. Schlecht sah er wahrhaftig nicht aus, mit seinem dunklen, unordentlich zurechtgestrubbelten Haaren, und den ebenso dunklen Augen. Doch das interessierte sie nicht, sie sah nur den Charakter, sie konnte gar nicht anders. Sie war dazu geboren, anderleuts Charakter zu identifizieren. Wie in Trance verfolgte sie die Regentropfen mit den Augen, bis diese auf dem Boden begannen Pfützen zu bilden. Sie legte ihre Hände mit den Handflächen nach oben in ihren Schoß. Ganz vorsichtig verlangsamte sie ihre Atmung, schloss die Augen und schloss ihre Hände zu Fäusten. Unter ihren Augenlidern konnte sie ihn sehen, er schleppte sich gerade die Treppe herunter, blieb aber abrupt stehen als er merkte, dass sie ihn beobachtete. Natürlich wusste er nicht, dass er von ihr beobachtet wurde, aber er fühlte etwas. Sie lachte leise. So ein Dummerchen. Sie überlegte mit ihm zu sprechen, überlegte es sich dann aber doch anders und beließ es bei einem kleinen, schmerzhaften Stechen in seinem Kopf. Was man mit Gedankenkraft alles so verursachen konnte, faszinierte sie immer wieder aufs Neue. Er stöhnte auf. Sie entzog sich wieder und richtete ihren Blick wieder auf die nun dickeren Regentropfen. Sie hatte sich nie gewünscht normal zu sein. Warum auch? Hier gab es nichts, was sie besonders festhielt, warum sollte sie dann nicht auch mal was aufs Spiel setzen? Sie konnte den Rat nicht ausstehen, aber die erworbenen Fähigkeiten, die in ihr geschlummert hatte, liebte sie. Die Gedanken schweiften wieder zu ihm. Sie beförderte sich in ihre alte Pose und sah ihn auf einem Stuhl sitzen. Vor sich auf dem Tisch lag ein Blatt Papier. Sie beobachtete ihn weiter. Er schrieb etwas auf das Blatt, nein, er zeichnete. Noch konnte sie nicht erkennen was genau er zeichnete, aber sie hatte Geduld. Langsam nahmen die vielen Striche Form an und sie erkannte…sich. Sie erkannte sich selbst. ER zeichnete SIE. Und zwar so, als wäre das Blatt ein Spiegel vor ihr. Jedes Haar saß an der richtigen Stelle und ihren ironischer Blick, konnte sie nicht besser darstellen. Ihre Lippen formten stille Worte, die in seinem Kopf wiederhallten. „Hör auf damit!“ Für sie gaben diese Worte keinen Laut von sich, für ihn aber explodierte sein Kopf fast, weil die Stimme so laut war. Sie wusste es und genoss auch ein wenig sein plötzliches Zusammenzucken. Trotzdem verfeinerte er unbeirrt die Linien die sie wiedergaben. „Lass das! Ich tue dir weh! Keinen Strich mehr!“, fauchte sie. Er legte den Stift beiseite und neigte den Kopf ein wenig. Er drehte das Blatt auf die Rückseite und begann zu schreiben. All das verfolgte sie mit wachsamen Augen. ‚Bevor du mich quälen willst, könntest du mir ja auch theoretisch sagen wer du bist, oder?‘, schrieb er. „Du wirst mich noch früh genug kennenlernen“, flüsterte sie vor sich hin. ‚Ich will’s aber genau jetzt wissen! Du überwachst mich hier und ich weiß noch nicht mal deinen Namen!‘ „Vergiss es. Ich werde dich ab jetzt in Ruhe lassen. Wir werden uns sehen, aber versprich mir dass du aufhörst mich zu zeichnen!“ ‚Nein.‘  Diese Ansage war knapp und deutlich. Er wollte nicht auf sie hören, also musste sie zur schmerzhaften Methode übergreifen. „Ich werde dir jetzt wehtun.“ Langsam ließ sie den Schmerz in seinem Kopf anschwellen. Er reagierte nicht darauf. Immer mehr Kraft floss durch ihren Körper und immer mehr Schmerzen wurden in seinem Kopf spürbar. Er stöhnte auf, ließ den Stift fallen und flüsterte ein leises aber deutliches ‚Hör auf damit!‘. Sie ließ ihn in Ruhe und verabschiedete sich nur mit den Worten: „Wer nicht hören kann, muss fühlen. Pass auf was du tust.“ Damit entzog sie sich ihm und blickte vollends zufrieden aus dem Fenster.

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Das Gefühl von Donner (on hold)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt