Lydia war beinahe neuntausend Kilometer von Zuhause entfernt und befand sich in aller Öffentlichkeit, als völlig unerwartet die Banshee in ihr erwachte.
Ihr zweiwöchiger Schüleraustausch in Paris neigte sich da gerade beinahe seinem Ende zu. Es war neun Uhr am Morgen hier in Europa und zum Abschluss des Sprachaustausches machte die Schulklasse einen Ausflug in den Louvre. Lydia hatte sich sehr darauf gefreut, all die Werke der großen Meister einmal im Original zu sehen. Sie wartete soeben mit ihren französischen Mitschülern in der Schlange vor der seltsamen Glaspyramide, die den Eingang des Gebäudes bildete, als es losging: Ihrer Kehle entfuhr ein markerschütternder Schrei. Sie wusste sofort, dass etwas Furchtbares geschehen war. Ihr Freund Stiles war angegriffen worden. Lydia konnte spüren, wie er um sein Leben kämpfte.
Sie brauchte einen kleinen Moment, um wieder voll und ganz ins Hier und Jetzt zurückzukehren und sie wurde sich bewusst, dass ihre Mitschüler und auch alle anderen Wartenden in der Schlange sie entsetzt anstarrten:
„Araignée!" stammelte sie eilig: „ Jái peur des Araignées. Il y avait une araignée."
Die Umstehenden blickten sie verwirrt, ungläubig, teilweise auch verständnisvoll an. Sich mit einer Spinnenphobie herauszureden war vielleicht auch nicht die cleverste Idee, aber auf die Schnelle war ihr eben nichts besseres als Erklärung eingefallen, warum sie hier so unvermittelt herumbrüllte.
Schlagartig hatte Lydia überhaupt kein Interesse mehr an dem Museumsbesuch, obwohl dieser im Grunde doch ihr zu Ehren stattfand, aber ihr blieb in diesem Moment auch nichts anderes übrig, als es einfach hinter sich zu bringen. Sie wanderte unruhig die Ausstellungshallen ab, gab vor, sich für die Kunst zu interessieren, doch gedanklich war sie ganz woanders. Sie musste nachhause und das so schnell wie möglich und sie überlegte hin und her, wie sie das anstellen konnte. Wenn daheim in Beacon Hills ihr Freund starb, dann musste sie dort sein um zu sehen, ob sie etwas tun konnte. Sie musste ihren Freunden beistehen und... vielleicht blieb ihr am Ende auch nichts weiter übrig, als einfach bloß Lebewohl sagen.
Lydia war dankbar, als der Museumsbesuch endlich hinter ihr lag und sie griff als erstes zu ihrem Handy, als sie sich wieder unter freiem Himmel befand. Malia berichtete ihr knapp, was daheim geschehen war und Lydia versprach:
„Ich komme so schnell, wie ich kann!"
Sie erklärte ihrer Gastfamilie, dass es einen familiären Notfall gegeben habe und sie umgehend nachhause fliegen müsse und das war nicht einmal eine Lüge gewesen, denn Stiles fühlte sich für sie wirklich wie eine Art Bruder an.
In Windeseile hatte Lydia ihre Koffer gepackt, hatte sich ein Taxi genommen und war zum Flughafen gefahren, nur um dort zu erfahren, dass sie vor morgen Abend keinen Flug bekommen würde und auch dann würde sie keine Direktverbindung haben. Zunächst würde sie über acht Stunden lang von Paris nach Toronto fliegen, hätte dort wiederum einen halben Tag lang Aufenthalt und würde dann erst die Maschine nach Los Angeles nehmen können; Flugdauer fünfeinhalb Stunden. Von dort wäre sie dann mit dem Auto in eineinhalb Stunden daheim in Beacon Hills. Diese Tour würde mörderisch werden, aber Lydia war das gleichgültig. Sie wollte zu ihrem Freund!
Als sie eine Weile eingenickt war, während sie auf einer der unbequemen Bänke am Flughafen versuchte, die Nacht herum zu bringen, hielt ein Taschendieb sie offenbar für ein leichtes Opfer. Der Kerl war gerade dabei, ihre Handtasche an sich zu bringen, als Lydia erwachte. Sie war sofort hellwach und auf den Füßen. Mit dem, was als nächstes geschah, hatte der kleine Ganove sicherlich sicherlich gerechnet. Er versuchte, das Mädchen von sich zu stoßen und mit seiner Beute zu entkommen, doch sein Opfer war sehr viel tougher, als es aussah. Von Parrish hatte Lydia zu kämpfen gelernt und das tat sie nun und vermöbelte den Kerl, der mehr als einen Kopf größer und beinahe doppelt so schwer war, wie sie selbst nach allen Regeln der Kunst.
Lydia war es gewohnt, sich den Mächten des Bösen entgegenzustellen. Ein kleiner Handtaschenräuber war da im Grunde kein würdiger Gegner mehr für sie. Am Ende hatte der Dieb keine Wahl, als entsetzt und ohne seine Beute Reißaus zu nehmen.
Einige andere Reisende waren auf den Vorfall aufmerksam geworden und applaudierten Lydia, doch diese nahm einfach wieder nur ihren Sitzplatz ein und tat so, als sei nichts geschehen.
Später im Flugzeug hatte Lydia dann endlich Gelegenheit wirklich ein wenig Nachtschlaf nachzuholen. Und mit dem Schlaf kamen die Träume. Lydia fand sich an einem seltsamen Ort wieder. Es war düster hier, so wie kurz nach Sonnenuntergang und dies hier schien eine Art Wald zu sein, auch wenn die Bäume aussahen, als seien sie schon lange tot und versteinert. Alles um sie herum wirkte unwirtlich und bedrohlich. Und dann entdeckte Lydia aus dem Augenwinkel die monströse, dunkle Gestalt, die auf die zukam und sie rannte!
Sie erwachte mit einem entsetzten Schrei und als sie die Augen öffnete, blickte sie in das Gesicht eines freundlich, aber auch besorgt dreinblickenden Flugbegleiters:
„Entschuldigen sie. Alptraum!" murmelte sie, um ihn loszuwerden, doch sie wusste, dies war nicht nur ein Traum gewesen. Oder zumindest war es nicht ihr eigener Traum, es war das, was Stiles momentan erlebte und für ihn war es real; ein wirkliche Bedrohung seines Lebens.
Und ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Lydia erinnerte sich daran, wie es früher war, bevor sie und Stiles Freunde geworden waren.
Wenn sie auf sich selbst zurückblickte, dann mochte sie die Person nicht besonders, die sie damals gewesen war. Sie hatte seinerzeit alles daran gesetzt, jeden davon zu überzeugen, dass sie etwas Besseres sei, als jeder andere. Sie war das beliebte Mädchen, jemand zu deren Partys jeder gern eingeladen werden wollte; jemand mit dem Jungs sich gern umgaben, um damit ihr eigenes Ansehen zu erhöhen.
Was war sie nur für eine dumme, eitle Gans gewesen?
Durch Menschen wie Stiles hatte sie damals geflissentlich hindurchgeblickt, als wären sie unsichtbar, denn im Grunde waren sie eine Bedrohung für ihre damalige Lebensweise. Sich mit solchen zu umgeben, war der Garant für gesellschaftlichen Abstieg.
Alles was für Lydia damals gezählt hatte, war ihr Ansehen, dabei war das alles so furchtbar hohl gewesen! Sie bestand zu dieser Zeit ihres Lebens lediglich aus Fassade. Alles was sich dahinter möglicherweise verbarg, hatte sie vor jedem, insbesondere sich selbst sorgfältig verborgen.
Stiles war es trotzdem gelungen, Lydia in ihrem Wesen zu erkennen und er hatte sie für all' das geliebt, was niemand über sie wissen durfte. Er hatte erkannt, wie schlau sie im Grunde war und er hatte sich nicht davon bedroht gefühlt, wie all die anderen Jungs, die es nicht ertragen hätten, ein Mädchen um sich zu haben, dass sie locker in die Tasche stecken konnte.
Er war eben selbst auch ziemlich schlau.
Wenn Stiles nicht gewesen wäre, dann hätte sie sich höchstwahrscheinlich in jenem Moment das Leben genommen, als sie erfuhr, wer sie wirklich war. Sie war eine Banshee, ein Freak, das Mädchen, das Visionen hatte, furchterregende Schreie ausstieß und regelmäßig über Leichen stolperte.
Doch sie war eben nicht der einzige Freak. Heute hatte sie Freunde, die ebenfalls allesamt anders waren als alle anderen. Und ihre Zuneigung bedeutete Lydia heute so viel mehr, als die oberflächliche Anhimmelei vom Rest der Welt, die ihr früher so wichtig gewesen war. Sie gehörten zusammen, wie eine Familie.
Wie ein Rudel.
Und Stiles war das Herz, welches sie alle zusammenhielt.
Lydia ballte die Fäuste. Sie wollte jetzt einfach nur bei ihm sein!
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Coma-Boy and his pack
FanfictionEin Mensch als Teil einer Gruppe übernatürlicher Wesen lebte gefährlich. Und selbst wenn er sich mit einem Baseballschläger bewaffnete, hatte er den Mächten des Bösen nicht wirklich viel entgegenzusetzen. Ein Mensch als Teil einer Gruppe übernatürli...