Als ich in die Küche komme, sitzt Papa bereits hinter seiner Zeitung verbarrikadiert am Frühstückstisch, während Mama irgend etwas auf der Arbeitsfläche schnibbelt und hackt.
"Morgen..."murmele ich und lasse mich auf meinen Platz fallen.
"Morgen, mein Schatz" ,trällert meine Mutter viel zu gut gelaunt.
Ich schmiere mir schnell ein Brot und versuche es möglichst schnell runter zu schlingen. Ich habe heute Morgen ja so überhaupt keine Lust auf Menschen, und noch weniger auf motivierende und zugleich mich stressende Reden von Papa.
Noch vielleicht drei Bissen, dann schnell mit Orangensaft nachspülen, und dann bin ich hier raus. Zwei Bissen... Einer...
Papa raschelt mit der Zeitung. Es wird knapp.
Ich greife nach meinem Glas und will den Saft in einem Schluck runter stürzen.
Die Zeitung sinkt. Papa guckt mich an.
Ich habe das Rennen verloren.
Jetzt kann ich auch in Ruhe zu Ende trinken. Jetzt dauert es eh noch was.
"Denk dran, Elisa, heute beginnt die Oberstufe. Heute stellst du die Weichen für deine Zukunft!" ,beginnt er auch schon in bedeutungsvollem Ton zu sagen. "Jetzt entscheidest du, wie es später für dich weiter geht, denk daran. Die nächsten Jahre werden äußerst wichtig für dich. Hast du dir mittlerweile Gedanken gemacht, was du nach derSchule machen möchtest?"
Ich schüttele den Kopf. Ständig die gleiche Frage. Dabei beginnt heute doch gerade erst die zehnte Klasse! Bis ich Abi habe sind es noch fast drei Jahre!
"Dann solltest du das endlich tun. Nimm es nicht auf die leichte Schulter,der Schulabschluss kommt schneller, als du gucken kannst!"
An dieser Stelle stehe ich vom Tisch auf. Wenn ich Papa jetzt nicht unterbreche, hört er gar nicht mehr auf. Wobei: Dann könnte ich mir den ersten Schultag nach den Sommerferien sparen, und das hat ja auch was...
"Hier, mein Schatz, dein Schulbrot" ,sagt Mama und steckt mir eine Tupperdose in meinen Rucksack.
"Danke",sage ich, und gehe in den Flur.
"Einen schönen ersten Schultag!" ,ruft sie mir noch hinterher, aber ich antworte ihr nicht. Sie weiß doch, dass ich so etwas hasse.
Ich fahre die Strecke zur Schule mit dem Rad. Ich könnte auch den Bus nehmen, aber das ist mir morgens zu stressig. Zu viele Menschen. An der Schule angekommen ist wieder diese ganz komische Stimmung. Ich weiß gar nicht, wie ich sie finden soll.
Jedes Jahr nach den Sommerferien kommen wir alle nach mehr als sechs Wochen zurück. Die meisten haben sich kaum gesehen, ich sowieso niemanden. Alles ist irgendwie neu, und doch ist vieles altbekannt. Man fragt sich, was sich verändert hat, wer sich verändert hat. Es hängt immer noch der Geruch des Sommers in der Luft. Immer noch wärmt das T-Shirt genug. Aber die Bücher und Hefte sind neu, manchmal auch der ganze Rucksack mit allem, was darin ist. Und automatisch stellt man sich die Frage: Was werden wir dieses Jahr hinein schreiben in die Hefte?Ich meine nicht nur Mathe und Deutsch. Was werden wir dieses Jahr hinein schreiben, zwischen den Zeilen?
Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie mag ich dieses Gefühl. Auch, wenn ich die Frage "Wer hat sich verändert?" nur aus der Entfernung beantworten kann. So ist das, wenn man lieber ein Einzelgänger ist.
In meiner ersten Stunde erlebe ich direkt eine von vielen Formen meines persönlichen Albtraumes. Es gibt eine von der Lehrerin festgelegte Sitzordnung."Damit ihr die Chance bekommt, mal andere Leute kennen zu lernen" ,betont unsere Lehrerin. "Denn oftmals ist es ja so, dass man sich nur zu seinen Freunden setzt. Aber da ihr jetzt eine Stufe seid, finde ich, solltet ihr auch mal die Leute kennenlernen, von denen ihr bisher nichts mitbekommen habt. Ich habe mir also besondere Mühe gegeben, dass ihr neben Leuten sitzt, mit denen ihr bisher nicht in einer Klasse wart."
Bei den meisten Menschen ist diese Regelung vermutlich sinnvoll. Wo sie bei mir allerdings etwas erreichen soll, weiß ich nicht. Ich habe mit den Leuten aus meiner Klasse nicht geredet, warum sollte ich jetzt anfangen, mich mit irgendwelchen Fremden anzufreunden?
Es bricht ein kleines Chaos aus, weil jeder den für sich vorgesehenen Platz sucht. Meinen finde ich recht schnell und kann somit den Rest des Kurses unauffällig beobachten. Wen es wohl neben mich verschlägt? Kurz nachdem ich mir diese Frage gestellt habe, kommt ein Mädchen mit dunklen Locken auf mich zu, setzt sich neben mich und lässt ihreTasche auf den Boden plumpsen.
"Hey",sagt sie, "ich heiße Lou, und du?"
"Lilly",sage ich.
"Cool."
Wir werden unterbrochen, weil die Lehrerin die Anwesenheitsliste kontrolliert.
Ich mustere Lou unauffällig. Ich habe sie noch nie gesehen.
Ich glaube, Lou ist eines dieser Mädchen, mit dem jeder befreundet sein möchte. Also kein Grund, sie näher kennen zu lernen. Hat ja eh keinen Zweck. Sie wird schnell merken, dass ich ihr viel zu langweilig bin.
Den Rest der Stunde reden wir nicht mehr miteinander, und ich habe die Sache schon bald vergessen.
Aber nicht lange.
In der letzten Stunde haben wir erneut einen Kurs zusammen.
"Du schon wieder!" ,lacht Lou mich an. "Scheinbar werde ich dich jetzt nicht mehr los. Wollen wir den Tisch da vorne nehmen?".Und schon hat sie uns den Tisch reserviert und ich folge ihr.
"Bist du gut in der Schule?" ,fragt sie mich, als wir sitzen.
"Ja, schon", gebe ich leicht peinlich berührt zurück. Wer will schon zugeben, dass er ein langweiliger Streber ist.
"Sehr gut! Dann musst du mir unbedingt helfen! Also, versteh mich bitte nicht falsch, ich in wirklich nicht blöd oder will dich ausnutzen oder so, aber das mit dem schriftlichen Kram, das ist einfach nicht meins. Also, hilfst du mir?"
Wie könnte ich ihr diese Bitte abschlagen? Ich willige ein und gebe ihr meineHandynummer, damit wir uns auch von zu Hause austauschen können.
Als die letzte Stunde vorbei ist winkt mir Lou beim Rausgehen. Ich winke zurück und gehe grübelnd zu meinem Rad. Ich kann nicht glauben, dass Lou sich solche Mühe mit mir gibt. Irgendwo muss der Haken sein. Vermutlich nutzt sie mich wirklich nur aus oder so. Oder sie merkt bald, dass sie sich die Zeit mit mir besser sparen sollte und sucht sich coole Freunde.
Aber auf der anderen Seite habe ich da dieses Gefühl, dass das alles heute nicht gespielt war. Als ich in unsere Einfahrt zu Hause einbiege, mache ich dem ganzen Grübeln vorerst ein Ende. Wir werden ja sehen, wie sich die Sache entwickelt. Um eine Antwort zu bekommen muss ich bloß abwarten.

DU LIEST GERADE
Lilly & Lou
Novela JuvenilLillys beschauliches Leben ändert sich, als sie sich mit der neuen Mitschülerin Lou anfreundet. In Lou findet sie seit langem die erste Freundin, und Lou wird nicht nur Lillys einzige, sondern vor allem auch ihre beste Freundin. Zwischen Schule, Par...