Anfang März

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Es war Anfang März, als ich sie das erste Mal sah.

Die Grabstelle, an der das Apfelmädchen eingeäschert lag.

Ein weißer Krokus blühte auf dem kahlen Fleck, auf dem nach dem letzten Schnee langsam Grashalme zu wachsen begannen. Der Rest der Grabstelle war grau.

Graue, vertrocknete Erde, bei der es mich wunderte, wie das Gras nur ohne Wasser wachsen konnte. Ein grauer Grabstein, auf dem Namen und deren Lebensdaten eingemeißelt waren. Ein grauer, ebenso vertrockneter Blumenstrauß, der kaum als solcher zu erkennen war. Ich fragte mich, wann das letzte Mal jemand hier gewesen war. Ob sich überhaupt jemand um das Grab kümmerte. Ob das Apfelmädchen überhaupt jemandem etwas bedeutet hatte.

Ihrer Mutter, schoss es mir durch den Kopf. Sofort bewegten sich meine Augen zum Grabstein und studierten den Text. Es waren zwei Frauen, deren Asche sich unter der trockenen Erde befand. Sie trugen beide den gleichen Nachnamen. Die Geburtsdaten ließen darauf schließen, dass es sich um ihre Mutter handelte. Beide starben am gleichen Tag. Dem neunundzwanzigsten Oktober.

Ich fragte mich, ob sich das Apfelmädchen deshalb das Leben genommen hatte. Weil es erfahren hatte, dass seine Mutter gestorben war? Oder weil sie es zu Hause nicht mehr aushielt? Oder weil es unsere Schuld war? Die meiner Mitschüler, meines Klassenlehrers, von mir.

Wie oft mich dieser Gedanke die letzten Monate gequält hatte. Wie oft ich mir eingeredet hatte, dass es nicht an mir lag. Dass ich doch gar nichts getan hatte. Dass ich ihr nicht nahestand, sowieso nichts hätte bezwecken können. Wie oft ich versucht hatte, diesen Lügen Glauben zu schenken. Es war bescheuert.

Ich hatte sie getötet. Wir alle hatten sie getötet.

Im Ethikunterricht hatten wir uns mehrere Stunden damit beschäftigt, nachdem das Apfelmädchen gestorben war. Dass wenn es einem nicht gut geht, man Hilfe suchen soll. Dass man nicht unüberlegt handeln sollte. Dass es immer jemanden gibt, der einen unterstützen wird. Dass man nicht alleine ist.

Richtig, das Apfelmädchen war nicht alleine. Sie war umgeben von Idioten, rücksichtslosen Egoisten, denen die Gefühle dieser Person egal waren. Sie alle, inklusive der Lehrer, stellten sie als den Täter dar. Dass sie sich hätte Hilfe suchen sollen. Dass sie sich hätte anders verhalten sollen. Niemand dachte darüber nach, dass es auch an uns gelegen hatte. Dass sich diese Lehreinheiten nicht nur auf den Suizidgefährdeten beziehen sollten, sondern auch auf uns. Dass wir Rücksicht nehmen sollten. Unsere Hilfe auch anbieten sollten. Und dass wir verdammt nochmal eingreifen sollten, wenn sich Zeichen von häuslicher Gewalt, Magersucht oder Selbstverletzung bemerkbar machten.

Wütend versuchte ich, mich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich nahm ein paar Meter Abstand von der Grabstelle, in der Hoffnung, Abstand von den vielen Gefühlen zu bekommen, die in mir emporstiegen. Schnell las ich mir andere Inschriften durch, fokussierte meinen Blick auf andere Gräber, auf denen frische Blumen standen oder eine Kerze brannte. Ich konzentrierte mich auf meinen Atem und lief langsam durch die Reihen des Friedhofes, bis ich wieder bei der des Apfelmädchens ankam.

Doch bevor ich näher treten konnte, kam mir ein Junge zuvor, der sich vor das Grab kniete. Er murmelte etwas, wischte sich abermals über die Wangen und nahm den Blumenstrauß hoch, den er zum nächstgelegenen Mülleimer brachte. Gerade, als ich an seine Stelle treten wollte, kam er zurück. Er bemerkte mich zum Glück nicht, vielleicht war seine Sicht durch die vielen Tränen beschränkt. Ich fragte mich, warum er wieder gekehrt war, ob er etwas vergessen hatte. In dem Moment griff er in seine Jackentasche.

Und er legte eine Birne ans Grab und ging.

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