Es war der sechste Monat, den das Apfelmädchen nun tot war. Es waren so viele Tage vergangen und dennoch hatte ich es nicht geschafft, mit dem Tod dieser Fremden abzuschließen. Eigentlich wollte ich heute zu Hause bleiben, aber immer wieder musste ich an den Birnenjungen denken.
Woher? Seit wann? Wieso? Wie sehr? Ich brauchte Antworten. Aus diesem Grund suchte ich auch an diesem verregneten Samstagvormittag den Friedhof auf. Es waren kaum Menschen dort. Der Ort wirkte einsam und verlassen.
Der Birnenjunge kniete trotzdem wie immer murmelnd vor dem Grab. Es war ein trauriger Anblick. Die Birnen waren alle verfault, die Krokusse verblüht und die weißblonden Haare klebten in seinem Gesicht.
„Hey", begrüßte ich ihn vorsichtig.
Er drehte sich nicht um, um zu sehen, wer da mit ihm redete. Wahrscheinlich wusste er, dass nur eine Person infrage kam.
„Kanntest du das Apfelmädchen gut?", fragte ich direkt. Er schüttelte bedrückt den Kopf.
„Aber du hättest sie gerne besser gekannt?" Ein eindeutiges Nicken.
„Gehst du auch auf unsere Schule?", fragte ich weiter. Es entstand eine kurze Pause, bevor er erneut nickte. War die Frage zu persönlich? Ich war mir unsicher, ob ich eventuell schon zu weit gegangen war und hörte vorsichtshalber auf. Er wirkte sowieso nicht sehr gesprächig, was aber auch verständlich war. Schließlich wollte er in Ruhe trauern.
Meine Gedanken wanderten wieder zum Apfelmädchen. Die Zeit war schnell vergangen und trotzdem nicht schnell genug. Ich hatte gedacht mit der Zeit würden die vielen Sorgen und Vorwürfe einfach verschwinden, aber da hatte ich mich getäuscht. Man musste an sich arbeiten, sich mit dem Vergangenen auseinandersetzen und sich Fehler verzeihen. Anderenfalls würden einen diese Gedanken immer wieder quälen, egal wie lange das Ereignis schon her war.
Ich wollte meine Gedanken weiterführen, doch da hörte ich den Birnenjungen sagen: „Deshalb habe ich heute einen Apfelbaum in meinen Garten gepflanzt. Weil du mich inspiriert hast. Weil Äpfel Kraft spenden sollen. Und weil ich diese Kraft brauche."
Wow, was für eine süße Geste. Ich wollte dem Birnenjungen mitteilen, wie sehr sie mich begeisterte, aber da stand er schon auf. Plötzlich drehte er sich in meine Richtung, vielleicht um zu schauen, ob ich noch da war. Obwohl die Bewegung hastig war, konnte ich kurz sein mit Haaren verdecktes Gesicht sehen. Mir stockte der Atem. Das Gesicht kam mir bekannt vor. Doch er schien mich nicht erkannt zu haben, denn er griff wie immer bloß in seine Jackentasche.
Und er legte eine Birne ans Grab und ging.
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Birnenjunge
Short StoryEr legte eine Birne ans Grab und ging. Das tat er jeden Tag. Jeden, bis auf den letzten. - Fortsetzung von "Apfelmädchen" -