Vierter Nachmittag

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Es war der vierte Nachmittag, an dem ich meine Eltern angelogen hatte. Heute war ich mit meinen Freunden zum Zocken verabredet. Dass ich in Wahrheit mit keinem von ihnen mehr befreundet war, wussten sie nicht. Dass sich ein Mädchen unserer Schule umgebracht hat, ebenso wenig. Und dass dieses Mädchen aus irgendeinem Grund ihrem Sohn etwas bedeutete, erst recht nicht.

Vom Birnenjunge war keine Spur. Also nahm ich kurzerhand seinen Platz ein und setzte mich auf den dreckigen Asphalt direkt vor die zwei weißen Krokusse und die drei gelbbraunen Birnen.

Tief durchatmend, damit ich nicht wieder zu weinen begann, starrte ich den grauen, tristen Grabstein an. Er starrte zurück. Und wandte seinen Blick nicht mehr von mir ab.

Ich begutachtete die Pflanzen und erinnerte mich an meine gestrige Recherche. An die Stelle meines Kopfes, wo vor ein paar Wochen noch ununterbrochen das Apfelmädchen war, war nun der Birnenjunge getreten. Warum legte er jedes Mal beim Gehen eine Birne ans Grab? War es ihre Lieblingsfrucht? Oder war es seine? Ich wusste, dass ich ihn einfach fragen könnte, aber aus mir herauszukommen und mit Fremden zu reden war mir noch nie leichtgefallen. Immer wieder gingen mir die Szenen aus dem Krankenhaus durch den Kopf, wo ich herausfand, warum das Apfelmädchen die vielen Äpfel pflückte. Sie standen für die Quelle der Kraft, mit der sie ihre Mutter heilen wollte.

Aus diesem Grund hatte ich gestern gegoogelt, wofür Birnen standen. Die Suche war ziemlich aufschlussreich. Sie waren ein Symbol für Liebe, Wachstum und die Einsicht. Die Frucht diente dazu, in schwierigen Situationen den Weg zu weisen und ebenso wie Äpfel Kraft zu spenden. Außerdem sollten sie das positive Denken fördern und für Vergebung sorgen.

Vielleicht war das ja genau das, was der Birnenjunge erreichen wollte. Offensichtlich kam er genauso wenig wie ich mit dem Tod des Apfelmädchens zurecht. Er brauchte Kraft zum Wachsen, um seinen Weg aus der Dunkelheit zu finden. Er suchte hier an ihrem Grab Antworten, Hilfe, Frieden.

Plötzlich tat mir der Birnenjunge leid. Was, wenn er wie damals das Apfelmädchen in Schwierigkeiten war? Wenn er nicht wusste, an wen er sich wenden sollte? Mit wem er darüber reden konnte?

Diese Welt konnte sich manchmal ziemlich einsam anfühlen. Als wäre man der einzige Mensch auf Erden. Als gäbe es niemanden. Für das Apfelmädchen gab es niemanden, nachdem ihre Mutter starb. Sie war wirklich alleine. Wie gerne ich ihr gesagt hätte, dass sie das nicht war.

Du bist nicht allein!, schrie ich in Gedanken, in der Hoffnung, sie würde das hören. Ich wartete noch kurz, ohne zu wissen worauf, bevor ich den Rückweg antrat.

Als ich das Tor des Friedhofes erreichte, drehte ich mich noch einmal um. Da war der Birnenjunge, so wie ich gerade, vor dem Grab stehend.

Und er legte eine Birne ans Grab und ging.

BirnenjungeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt