Zweiter Krokus

602 113 6
                                    

Es war der zweite Krokus, der nun auf dem Grab blühte.

Ich fragte mich, ob der Junge ihn gepflanzt hatte. Ob er in der Zwischenzeit nochmal hergekommen war. Wer er überhaupt war.

War es ein Freund von ihr? War es ihr Freund? War es ein Familienmitglied, vielleicht ein Cousin oder sogar ihr Bruder? Oder war es bloß der Nachbarsjunge? Er war in unserem Alter gewesen, aber jemand aus unserer Klasse konnte es nicht gewesen sein, da niemand solch weißblonde Haare hatte wie er. Zumal sowieso niemand das Apfelmädchen hier besuchen würde. Und wieso in aller Welt hatte er ihr eine Birne mitgebracht?

Ich ermahnte mich dafür, dass ich extra hergekommen war, doch jetzt nur an meine Schulkameraden dachte. Dies war verschwendete Zeit, das wusste ich. Ich hatte nicht mehr viel mit ihnen zutun, seit sie das Apfelmädchen armselig genannt hatten. Generell hatte ich in den letzten Monaten so oft die Ereignisse revue passieren lassen, dass es mich erschreckt hatte, wie rücksichtlos wir uns alle verhalten hatten. Wie wir in ihrer Ab- und Anwesenheit über sie gelacht haben, ihre Probleme nicht ernst genommen haben und uns so blind gestellt haben.

Erneut machte mich unser vergangenes Verhalten wütend. Ich wollte nicht wütend sein, nicht hier, an einem Ort der Trauer. Ich wollte in Gedanken beim Apfelmädchen sein, ihr den Respekt erweisen, den ich ihr als sie noch lebte nicht geben konnte. Ich wollte endlich wieder ruhig schlafen können, ohne die Albträume, das schlechte Gewissen und den Selbsthass. Ich wollte für sie da sein. Weil ich das vorher nicht konnte.

„Es tut mir leid", flüsterte ich so leise, dass es sofort vom Wind verschluckt wurde.

„Was tut dir leid?", kam es plötzlich von rechts. Ich schrak auf und erstarrte.

In meinem Augenwinkel nahm ich den blonden Junge vom letzten Besuch wahr. Er wartete kurz, doch ich war so perplex, dass ich keine Antwort aus mir heraus brachte. Da hockte er sich schon vor das Grab und begann zu murmeln. Er vergaß mich komplett und widmete sich nur dem Apfelmädchen und seiner Mutter. Wahrscheinlich hatte er gemerkt, wie unangenehm mir das Gespräch gewesen war.

Obwohl er sich nicht mehr mit mir beschäftigte, ließ mich seine Frage nicht los. Was genau tat mir leid? War es unser Verhalten? Waren es die Umstände? Dass ihre Mutter im Koma lag und ihr Vater finanzielle Schwierigkeiten hatte? Dass sie von allen wie Dreck behandelt wurde? Dass sie für all das nichts konnte und am Ende trotzdem diejenige war, die litt?

Ich beobachtete den weißblonden Schopf, der unverändert vor dem Grab hockte, während ich weiter über die Frage nachdachte. Da fiel mir plötzlich ein, was mir neben all dem am allermeisten leidtat. Doch ich kam nicht mehr dazu, es dem mysteriösen Jungen mitzuteilen. Denn er war bereits aufgestanden, zupfte an seiner Jacke und kramte in seiner Tasche.

Und er legte eine Birne ans Grab und ging.

BirnenjungeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt