Es war die dritte Träne, die ich heute vergoss. Ich wusste, woher die erste und zweite kamen, aber was mich danach zum Weinen brachte, war mir unklar.
Direkt nach der Schule hatte ich den Friedhof angesteuert. Ich brauchte jemanden zum Reden. Dringend. Doch als ich am Grab des Apfelmädchens ankam, saß davor bereits der Birnenjunge und redete mit ihr.
Ich lehnte mich an einen Baum an, der hinter der Grabreihe stand und wartete darauf, dass der Junge seine Birne auf das Grab legte und verschwand, woher auch immer er kam. Aber wie es schien, war er ebenfalls gerade erst gekommen. Während er sprach, schnappte ich ein paar Worte auf. Apfelbaum. Gefällt. Geweint. Ich hielt den Atem an. War er etwa auch da gewesen? Ich spitzte meine Ohren und lauschte.
„Es ging alles so schnell. Auf einmal war er weg. Als wäre er nie dagewesen. Aber wohin mit den Erinnerungen? Jeden Tag bin ich an ihm vorbeigelaufen. Jeden Tag habe ich mich daran erinnert, wie du in den Pausen unter ihm standest und nach dem Unterricht einen Apfel pflücktest. Und jetzt ist er weg. Einfach so. Und warum? Weil er angeblich von irgendwelchen Tieren befallen war. Aber weißt du warum er wirklich gefällt wurde? Weil die Schule alles Schöne entfernt. Erst dich und dann diesen Baum. Vielleicht wollten sie einfach alle Erinnerungen an das Selbstmordopfer, das auf ihre Schule ging, loswerden." Er machte eine kurze Pause und holte tief Luft. „Weißt du, manchmal würde ich das auch gerne."
Und da traf es mich. Die dritte Träne. Schnell wischte ich sie mir weg und unterdrückte ein Schluchzen, damit der Birnenjunge nicht mitbekam, dass ich ihn belauscht hatte. Ich atmete langsam aus und befasste mich mit dem Gesagten. Meine Gedanken rasten. Sie liefen so schnell durch meinen Kopf, dass ich kaum einen einzigen fassen konnte. Apfelbaum. Gefällt. Geweint. So ging es mir ebenso. Die erste Träne, als der Apfelbaum fiel. Die zweite, als ich an das Apfelmädchen dachte, wie es immer darunter stand. Und nun die dritte, als der Birnenjunge das wiedergab, was ich empfand.
Woher wusste er davon? Die einzig logische Antwort war, dass er ebenfalls auf unsere Schule ging. Er musste aus einer Nebenklasse oder vielleicht aus einem Jahrgang über oder unter uns sein. So viele Möglichkeiten gab es nicht. Und trotzdem konnte es jeder sein. Warum war er mir überhaupt so wichtig? Ich hatte doch mit dem Apfelmädchen nie etwas zu tun gehabt.
Vielleicht wollte ich einfach nur mehr über sie erfahren. Vielleicht bereute ich es, sie nie kennengelernt zu haben. Vielleicht war sie mir doch irgendwie wichtig. Ich war nur zu feige, ihr zu helfen, sie anzusprechen, mich für sie einzusetzen. Nein. Ich war zu feige, ehrlich meine Meinung zu sagen. Zu tun, was ich für richtig halte. Zu mir selbst zu stehen.
Und das hat jemandem das Leben gekostet.
Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich kaum mitbekam, wie sich der Birnenjunge von dem Apfelmädchen verabschiedete und aufstand. Erst, als er lauthals in ein Taschentuch schnaubte, schreckte ich hoch.
Und er legte eine Birne ans Grab und ging.
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Birnenjunge
Short StoryEr legte eine Birne ans Grab und ging. Das tat er jeden Tag. Jeden, bis auf den letzten. - Fortsetzung von "Apfelmädchen" -