Ende April

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Es war Ende April, als ich den wahren Grund erkannte, warum ich so oft das Grab des Apfelmädchens besucht hatte.

Beim letzten Besuch hatte ich herausgefunden, dass mir der weißblonde Junge nicht fremd war. Aber ich wusste immer noch nicht, woher ich ihn kannte. Direkt am nächsten Tag war ich deshalb wieder zum Friedhof gelaufen, wo er glücklicherweise vor ihrem Grab saß.

Und auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die gelbe Jacke. Die hellblonden Haare. Die blasse Haut. All das kannte ich genauestens. Denn all das war ich.

Ich hatte den vertrockneten Blumenstrauß in den Müll geworfen. Ich hatte so viel geweint, dass ich nichts anderes wahrnehmen konnte.

Ich hatte mich selbst gefragt, was genau mir leidtat. Und ich brauchte es dem Jungen nicht zu sagen, weil ich es selbst längst wusste.

Ich hatte dem Apfelmädchen erzählt, wie der Apfelbaum gefällt worden war. Das waren meine Empfindungen gewesen.

Ich hatte genau gewusst, warum ich dem Apfelmädchen jedes Mal eine Birne mitbrachte. Nicht er brauchte Kraft zum Wachsen. Nicht er suchte an ihrem Grab Antworten, Hilfe, Frieden. Ich war das.

Ich hatte mir nur eingebildet, dass der Birnenjunge neben mir gesessen hatte, um mich nicht so allein zu fühlen.

Ich hatte die ganze Zeit über gemurmelt. Ich hatte meine Gedanken mit dem Apfelmädchen geteilt, mit ihr geredet, ihr Gesellschaft geleistet.

Ich hatte den Apfelbaum gepflanzt.

Ich hatte nicht mit ihm geredet, sondern mit mir. Ich hatte nicht ihn gesehen, sondern mich. Ich war nicht seinetwegen zu dem Grab gegangen, sondern meinetwegen. Weil ich mehr über mich erfahren wollte, weil ich verstehen wollte, warum ich so war, wie ich war. Warum ich noch immer am Apfelmädchen festhielt. Ich wollte mich bessern. Ich wollte mich endlich wieder im Spiegel ansehen, ohne von Selbsthass überrannt zu werden. Ich wollte mit der Vergangenheit abschließen.

Das Apfelmädchen war Vergangenheit.

Aber ich lebte in der Gegenwart. Ich konnte jederzeit das Leben anderer ändern. Ich hatte genug Mut und Kraft, das zu tun. Würde ich erneut jemanden sehen, dem es schlecht ging, würde ich ihm meine Hilfe anbieten. Ich würde nicht wieder nur zusehen, bis es zu spät war.

Ich war der Birnenjunge.

Zum ersten Mal an diesem Ort lächelte ich.

Und ich legte eine Birne ans Grab und ging.

BirnenjungeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt