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Langsam war ich wieder bei Sinnen. Ich befand mich in einer kleinen dunklen Gasse. Das Gebäude links neben mir konnte ich als unsere Stadtbibliothek identifizieren und die Steinwand rechts neben mir gehörte zu einem kleinen Blumenladen, den ich nur zu gut kannte. Es war der Laden meiner Mutter.
Gut, ich wusste zumindest, wo ich mich zur Zeit befand.
Mein Kopf brummte und ich rieb mir die Stirn.
War ich gerade wirklich geflogen? Also... so richtig geflogen? Als Vogel?
Neben mir erblickte ich ein paar schwarze Federn, die zu Boden fielen. Ich hockte mich hin und untersuchte sie.
Sie sahen aus wie die, von einer Krähe. Also stimmte es doch. Wahrscheinlich hatte ich mir beim Landen den Kopf angestoßen und deswegen lagen hier auch Federn.
Sollte mir das hier alles nicht ein wenig komisch vorkommen? Ich meine, Eintritte in Parallelwelten und Verwandlungen in Vögel gehörten nicht unbedingt zu meinem Alltag. Wie dem auch sei, es kam mir vor, als wäre es das normalste auf Erden gewesen, über unser nebliges England zu fliegen.
Ich brauchte unbedingt einen freien Kopf. Am besten ginge ich nach Hause und legte mich ins Bett. Leider viel mir auf, dass ich meinen Haustürschlüssel zu Hause liegen lassen hatte, als ich in meiner Tasche nach ihm kramte.
Super, Jess! Kannst du nicht ein einziges mal an wirklich alles denken?
Ich beschloss zu meiner Mutter in den Laden zu gehen, um sie nach ihrem Schlüssel zu fragen.
Die Glocke an der Tür bimmelte als ich das Geschäft betrat.
"Hallo Schätzchen!", rief mir meine Mutter sofort zu. Ich lächelte sie an und begrüßte sie mit einem 'Hallo Mama!'.
Sie bediente gerade eine ältere Frau, die sich wunderschöne Rosen ausgesucht hatte.
"Sie haben einen wirklich guten Geschmack", sagte meine Mutter zu ihr. Die Frau antwortete freundlich: "Ja, ich will heute mal meinen Mann damit überraschen.".
Als sie ging, fragte ich meine Mutter: "Mama, kann ich deinen Schlüssel für zu Hause haben? Hab meinen dort liegen lassen. Wenn du nach kommst, bin ich doch da. Da brauchst du ihn nicht." Ich setzte schnell meinen Hundeblick auf. Sie grinste nur und warf mir den Schlüssel zu. Ich fing ihn auf und sagte: "Danke!". Ich verschwand und hörte noch, wie sie sagte: "Aber nächstens mal bitte dran denken, okay?". "Ja, okay!", rief ich zurück.
Ich steckte den Schlüssel in meine Jackentasche und lief in Richtung Jacob-street.
Unterwegs gingen mir natürlich die heutigen Aktionen nicht mehr aus dem Kopf. War das hier alles real oder nur ein Traum und meine Mutter würde mich gleich für die Schule wecken? Aber wirklich unrealistisch kam mir es auch nicht vor. Andererseits hatte ich mir vielleicht wirklich einfach nur den Kopf gestoßen. Natürlich nicht, als ich als Krähe sicher auf dem Dach der Bibliothek landen wollte. Nein. Schon früher. Schon viel früher. Schon bevor ich in den Park gegangen war.
Dann musste ich schon sehr lang bewusstlos gewesen sein. Oder kam es mir vielleicht nur so vor?
An unserem Haus angekommen holte ich meinen Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Ich ging die Treppe hoch in mein Zimmer und ließ mich als erstes auf mein Bett fallen wie ein voller Kartoffelsack. Für ein paar Sekunden starrte ich die Decke an und ging schon mal die Hausaufgaben für den nächsten Tag gedanklich durch.
Ich war gerade so gar nicht in Stimmung, meine Schulaufgaben zu machen. Mein Kopf brummte immernoch. Ich beschloss meine Augen zu schließen, in der Hoffnung beim Augen Öffnen wieder in der Realität gelandet zu sein. Doch dies klappte nicht. Ich lag genauso auf meinem Bett wie vorher.

Wieder kam mir das Mädchen von heute in den Sinn. Ich hatte das vage Gefühl, dass sie die einzige war, mit Antworten auf meine Fragen. Nur wie sollte ich sie wieder treffen? Langsam realisierte ich, dass was heute geschehen war, die Realität war und ich keine Ahnung hatte, was ich jetzt machen sollte.
Sollte ich es jemandem erzählen? Meiner Mutter vielleicht? Nein, lieber nicht. Sie würde sich zu viele Sorgen machen. Okay, dieser Gedanke war eigentlich sinnlos. Aber trotzdem. Nein, ich blieb dabei. Ich würde dieses 'Geheimnis' erstmal für mich behalten. Es würde mir ja doch niemand glauben.
Plötzlich erschrak ich, denn unsere Haustürklingel schrillte. Wie ich dieses Geräusch hasste. Gerade, wenn es mal im Haus ganz still war und man fast einen Herzinfarkt von diesem nervtötenden Ton bekam. Schnell raste ich die Treppen wieder runter und öffnete meiner Mutter die Tür. Sie hatte bis zum Rand gefüllte Einkaufstüten in den Händen. Ich nahm sie ihr schnell ab und stellte sie in der Küche ab. Sie folgte mir, packte auf dem Küchentisch die Lebensmittel aus und füllte den Kühlschrank damit auf.
"Und wie war die Schule heute? Irgendwas Besonderes?", fragte sie mich. "Nö nö, alles wie immer. Langweiliger Unterricht und die üblichen nervigen Lehrer", grinste ich. Sie grinste zurück: "Na dann...".
Ich schaute in der Zeit nach, was sie denn so schönes eingekauft hatte. Neugierig schaute ich in alle Tüten rein. "Sag mal, hast du mein Handy gesehen?", fragte mich meine Mutter plötzlich. "Ne, findest du's nicht?", mampfte ich, denn ich hatte mir gerade einen fetten Schokoriegel in den Mund gestopft.
"Ja, ich finde es einfach nicht", sagte sie ratlos. "Könntest du vielleicht mal über dein Handy meine Nummer anrufen? Bestimmt liegt es hier irgendwo in einer Ecke." Meine Mutter war genauso verpeilt wie ich. Oder ich eher so verpeilt wie sie.
Ich sagte mit vollem Mund: "Ähm, geht nicht!"
"Wieso nicht? Wo ist denn dein Handy?", fragte sie mich mit großen Augen.

Das Mädchen, das im Asphalt verschwandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt