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Der Zug ratterte gleichmäßig dahin. Vor dem Fenster waren mehr und mehr Häuser zu sehen und immer weniger Kühe. Sie näherten sich jetzt langsam aber sicher München.

Manon gähnte. Sie hatte sich sehr zusammenreißen müssen um nicht ein zu schlafen. Doch die Mühe war es wert. Sie wollte auf keinen Fall ihre Station verpassen. Ihre Augenlider waren schwer wie Blei, doch Manon zwang sich aus dem Fenster zu sehen. Der Zug fuhr am ersten Hochhaus vorbei. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass die Schule gerade aus war. Manon tippte eine Nachricht für Ann. "Hi Mama, ich komme heute nicht zum Essen nach hause. Sitze im Zug zu Kate. Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Ich rufe heute Abend an und erkläre dir alles. Hab dich lieb, Manon." Dann schrieb sie Finn, dass er sie nicht mitnehmen brauchte und Kate, dass sie in einer Dreiviertelstunde vor ihrer Haustür stehen würde. Die Nachricht ging bei Kate nicht rein, doch das war normal. Bis Kate auf ihr Handy sah würde Manon wahrscheinlich schon längst bei ihr sein.

"In Kürze erreichen wir München Hauptbahnhof. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung rechts. Wir bedanken uns für ihre Fahrt mit der deutschen Bahn und wünschen Ihnen noch eine angenehme Reise.", nuschelte eine müde Frauenstimme im tiefsten Bayrisch durch die Lautsprecher. Manon schreckte auf und sah sich nach ihrem Rucksack um. Da hatte sie wohl doch noch ein paar Minuten geschlafen. Aber zum Glück war sie nicht zu weit gefahren.

Im ganzen Zug begannen Menschen herum zu kramen und fröhlich zu quatschen. Vor Manon versuchte ein Familienvater seinen drei Kindern die nächste Gleisnummer ein zu prägen während die Mutter ständig die Waggonzahl vor sich hin murmelte. Die Kinder stritten sich derweilen darum wer den kleinsten Koffer nehmen durfte. Manon schaute, dass sie sich vor der Familie aus dem Zug drängte. Endlich draußen orientierte sie sich kurz, bevor sie in Richtung U-Bahn lief. Unter der Erde roch es nach U-Bahn. Eine Welle der Erinnerungen überkam Manon. Wie oft waren Kate und sie hier gerannt um den Zug nicht zu verpassen? Wie oft waren sie hier gesessen, weil sie den Zug eben doch nicht erwischt hatten? Manon hätte nie gedacht, dass sie diesen Geruch mal als etwas positives empfinden würde, doch genauso war es. Sie fühlte sich zuhause. Mitten unter all den anderen namenlosen Menschen um sie herum genoss sie ihre wiedergewonnene Freiheit der Anonymität und Möglichkeiten. Ohne groß nach zu denken lief sie zur U5. Den Namen der Endstation auf der Anzeige zu sehen tat gut. Richtung Neuperlach Süd. Richtung zuhause.

Immer wieder hatte Manon das Bild von Till vor ihrem inneren Auge. Wie er dieses Mädchen angesehen hatte. Er musste sie wirklich lieben. Wie hatte Manon nur so dumm sein können sich ein zu bilden Till würde sie mögen? Als ob er in ihr mehr als ein Nachbarmädchen sehen würde...

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Manons Beine trugen sie hinein. Es war furchtbar eng. Sie versuchte an etwas anderes als an Till zu denken. Schon die letzten Stunden im Zug hatte sie an nichts anderes denken können. Doch das einzige, was sie erreichte war, dass sie sich auch noch den Kopf darüber zerbrach was mit Noah los war. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht einfach krank war. Vielleicht war er einfach nicht in der Schule gewesen und konnte ihren Brief daher gar nicht beantwortet haben. Aber was, wenn es nicht so gewesen war? Was, wenn er sie einfach nicht mehr aushalten konnte? Wenn sie ihn nervte und er keine Lust mehr hatte mit einem kleinen Mädchen Briefe aus zu tauschen? Was dann? Noah war in den letzten Wochen der Hauptgrund gewesen, weswegen Manon die Schule aushielt und sogar gerne hin ging. Wie würde sie die nächsten zwei Jahre ohne ihn aushalten? Was wieder zu der Frage führte wie sie überhaupt zwei Jahre in diesem Kaff aushalten würde. Ohne Till... mensch war das bescheuert! "Nächster Halt: Max-Weber-Platz", hörte Manon die vertraute Ansage. Diese Ansage hatte für Manon sechzehn Jahre lang bedeutet zuhause angekommen zu sein. Nach der Schule oder auch nach einem langen Sommerurlaub. Jede Reise hatte mit dieser Ansage geendet. Manon seufzte. Sie lief die Treppen nach oben in den Regen und geradewegs in die Einsteinstraße. Auf dem Weg zu Kates Wohnung kam sie an ihrer eigenen vorbei. Manon stiegen die Tränen in de Augen. Das war so gemein! Sie wollte einfach wieder hier wohnen. Mit Kate und ohne dieses blöde Mädchen in Tills Armen. Ohne einen Brieffreund, der sie ignorierte.

Manon gab sich keine Mühe mehr ihre Tränen zu stoppen. Stumm liefen sie ihr die Wangen herunter und vermischten sich mit den Regentropfen. Manon spürte wie ihre Chucks aufgaben und der Regen ihre Socken durchnässte. Sie zitterte. Dann kam sie an Kates Wohnung an. Nach dem Klingeln dauerte es eine Weile bis sich jemand an der Freisprechanlage meldete. "Hallo?", fragte Kates Stimme. Manon schluchzte auf. Ob vor Trauer wegen allem was heute schief gelaufen war oder vor Freude Kates Stimme zu hören wusste sie nicht. "Darf ich rein, Kate?", fragte Manon mit zitternder Stimme. "Manon!", kreischte Kate auf. Der Türsummer verschluckte alles andere.

Schnell trat Manon ins trockene und begann die Treppe hinauf zu laufen. Kate erreichte sie schon am ersten Treppenabsatz. Sie umarmte Manon mit so viel Schwung, dass sie fast umgekippt wären. "Ich bin ja so froh dich zu sehen! Wie kommst du denn hier her?", fragte Kate dann und sah Manon ins Gesicht. "Du siehst ja furchtbar aus! Was ist denn passiert?", wollte sie sofort wissen. Sie sah plötzlich ernsthaft besorgt aus. Manon schniefte. "Können wir hoch gehen?", fragte sie Kate zitternd. "Klar", erwiderte die und sie begannen die Stufen hinauf zu steigen. "Till hat ein anderes Mädchen. Er war heute in der Pause einfach weg und dann...dann hab ich sie gesehen...er hat sie so angesehen... als wäre sie das wichtigste in seinem Leben!... Und...und Noah... er... er antwortet nicht mehr... einfach so... ohne was zu sagen... ich habe alles zerstört Kate! ", das war alles was Manon sagte, dann fing sie richtig zu heulen an.

Kate lotste Manon sanft aber bestimmt ins Bad. Sie reichte ihr ein Handtuch. "Du musst erst Mal heiß duschen, damit dir nicht irgendetwas abfriert.", bestimmte sie. "Ich hole dir was trockenes zum anziehen."

Die Dusche tat ihr gut. Während sie sich die Haare föhnte schlief sie fast ein. Die Wärme an ihrer Kopfhaut machte sie müde. Sie zog sich Kates Jogginghose an und einen Pulli, den Kate Manon hingelegt hatte. So betrat sie Kates Zimmer. Alles war noch so wie immer bis auf die zweite Matratze, die Kate wohl gerade erst ins Zimmer gelegt hatte. Manons Kopf dröhnte. Sie schnappte sich Kates Kissen und ihre Decke. Dann kuschelte sie sich auf die zweite Matratze und schlief augenblicklich ein.





















































Damit wir lebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt