Ein Wecker klingelte und Manon wurde unsanft aus dem Tiefschlaf gerissen. Sie schaltete das Licht an und sah auf ihre Armbanduhr, die sie nie abnahm, aus Angst zu vergessen sie wieder anzuziehen. Sechs Uhr 30. Mist. Manon gähnte, schwang widerwillig ihre Beine aus dem Bett und öffnete ihr Fenster um frischen Sauerstoff zu ergattern. Sie hatte an diesem Morgen Weckdienst. Ihre Aufgabe war es also Finn zu wecken und Alin fertig für die Schule zu machen, dabei dafür zu sorgen, dass sie nicht zu spät loskamen und ihre Eltern nicht weckten. Ann war erst vor zweieinhalb Stunden von der Nachtschicht im Krankenhaus nach hause gekommen und ihr Vater würde erst in eineinhalb Stunden aufstehen, denn sie wohnten dank des Umzugs nur fünf Minuten von seinem Büro entfernt.
Manon schnappte sich ein Handtuch und ihren Bademantel, dann schlich sie sich in Alins Zimmer. Sie öffnete die Vorhänge, wodurch helles Licht in den Raum fiel und Alin sich schlaftrunken die Decke über den Kopf zog. Manon kniete sich an sein Bett und flüsterte: "Al, aufstehen! Du kleiner Spatz musst jetzt in die Schule. Heute ist ein wundervoller Tag, die Sonne scheint." Al grummelte etwas unverständliches, doch dann setzte auch er sich auf und rieb sich die Augen. "Ich mach ja schon..." , quengelte er und stand auf. "In zwanzig Minuten gibt es Frühstück." , erinnerte sie ihn noch und verschwand in den Flur.
Bei Finn war das Kinderwecken dann auch schon wieder vorbei. "Guten Morgen, Finn!" , rief sie in Finns Zimmer hinein noch bevor sie es betreten hatte. Kaum war sie drin riss sie das Fenster auf woraufhin Licht, dicht gefolgt von kühler Luft ins Zimmer gelangte. Boa, war das wieder ein Mief. Doch in ihrem Zimmer war es sicher nicht besser gewesen. "Morgen kleine Weck-Schwester" , begrüßte Finn sie. "Sag lieber nichts, Finn. Morgen bist du wieder der Weck-Bruder!", erinnerte ihn Manon. "Ja, leider", gab Finn zu und bequemte sich aus dem Bett. Manon verschwand durch die Tür und beeilte sich ins Bad zu kommen. Das war der Vorteil am Weckdienst. Sie hatte Vorrang im Bad und durfte daher als erste duschen. Das tat sie dann auch. Danach überließ sie das Bad Finn und ging nach Al schauen, der sich inzwischen schon fast fertig angezogen hatte. Sie kontrollierte, ob er alles im Schulranzen hatte was er brauchte und ging sich dann fertig anziehen. Um sieben saßen sie letztendlich zu dritt beim Frühstück, und um halb Acht im Auto zur Schule.
Zuerst brachten sie Al zur Grundschule, dann fuhren sie weiter zu ihrem kleinen Gymnasium zwei Orte weiter. Als sie auf den Parkplatz bogen sahen sie schon von weitem Finns gesammelte Freunde in einer Ecke. Finn parkte nicht weit von ihnen und die Truppe bewegte sich langsam auf sie zu. Manon hatte wenig Lust sich schon so früh am morgen mit so vielen Menschen herum zu schlagen. Also griff sie zur Alternative: Flucht.
"Bis später, Finn.", sagte sie und schlüpfte aus dem Autto kurz bevor Finns Freunde sie erreicht hatten. Sie nickte der Gruppe Zwölftklässler zu und verschwand eilig Richtung Schule. Glück gehabt. Lasst uns den neuen unauffälligen Tag in dieser Anstalt beginnen, schoss es Manon durch den Kopf, als sie das Schulgelände betrat.
Glücklicherweise ging der Vormittag ohne große Zwischenfälle über die Bühne. In der Pause saß sie bei Finn und seinen Freunden, jedoch ganz am Rand der Gruppe, sodass sie nicht wirklich in das Gespräch eingebunden wurde, was ihr auch ganz recht war. Sie war ohnehin nur bei Finns Gruppe um Finn eine Freude zu machen. Er wollte nicht, dass Manon allein in einer Ecke des Hofs saß, obwohl ihr das eigentlich lieber wäre. Da hätte sie immerhin in Ruhe Mathe machen können. Er hoffte sie so mit ein paar potenziellen Freunden in Kontakt zu bringen. Doch Finns Freunde redeten größtenteils nur von Sport und schienen auch nichts anderes im Leben zu machen. Manon passte nicht in die Gruppe, fand sie. Aber wenn es Finn glücklich machte, dass sie da war...
Die letzten zwei Stunden vor Mathe zählte Manon angespannt die Minuten. Ob ihr Zettel den Tag wohl überlebt hatte? Sie hoffte es inständig. Als der Gong sie aus der fünften Stunde befreite, war sie eine der ersten die ging, obwohl sie sonst immer sehr darauf bedacht war schön unauffällig mit dem großen Mittelstrom zu gehen. Das war jetzt auch egal, wenn nur ihr Zettel noch da war. Sie rannte fast zum Matheraum. Nur blöd, dass sie dabei den großen Jungen übersah, der mitten im Gang stand. Sie knallte mit voller Wucht gegen ihn, ließ ihren Rucksack fallen und verlor das Gleichgewicht. Gleich würde sie mit dem Kopf auf den Boden schlagen, eine Platzwunde haben und ins Krankenhaus eingeliefert werden, ohne die Aussicht ihren Zettel je wieder zu sehen!
Ach wäre sie doch Teil eines Liebesromans, dann würde der Junge über ihr sie auffangen und vor diesem schrecklichen Schicksal bewahren. Was dachte sie schon wieder für Quatsch, war das letzte was Manon dachte, bevor sie ihren Sturz mit einer perfekten Falltechnik mit Rückwärtsrolle auf dem Schulflur beendete. Sie landete im stehen und klopfte sich den Dreck vom Pulli. Igitt, da hatte schon ewig keiner mehr gewischt. Erst dann schaute sie hoch, direkt in das verblüffte Gesicht des Jungen vor ihr, den sie als einen Freund von Finn erkannte. So viel zu "keine Aufmerksamkeit erregen".
"Sorry" , murmelte Manon dem Boden zu. Dann schnappte sie sich ihren Rucksack aus der Hand des Jungen und verschwand so schnell wie möglich im Gang zum Matheraum. Kurz vor dem Gong schlüpfte sie noch durch die Tür und setzte sich an ihren Platz. Glücklicherweise rief Frau Wagner erst jetzt zur Ruhe, wodurch Manon diesmal wirklich unauffällig war.
Vorsichtig suchte sie mit den Augen den Boden ab, doch sie entdeckte nichts. So ein Müll aber auch. Trotz ihrer inneren Unruhe schaffte sie es noch drei Minuten still sitzen zu bleiben, bis Frau Wagner also wieder richtig in Schwung war und alle anderen von Manons Suchaktion erfolgreich ablenkte. Dann jedoch hielt sie es nicht mehr aus und tastete leise das Gitter unter ihrer Bank ab. Sie wurde fündig und zog erleichtert einen Zettel unter der Bank hervor.
Es war das arg zerknitterte, halb ausgefüllte Arbeitsblatt einer Sechstklässlerin mit dem Namen Nina.
Der zweite Versuch endete ebenso erfolglos wie der erste mit einem Spickzettel auf den mehrere physikalische Formeln gekritzelt waren. Nun ja, alle guten Dinge waren ja bekanntlich drei, dachte Manon und hätte fast gekichert so blöd fand sie diesen Gedanken. Nichtsdestotrotz fischte sie aufgeregt in dem Chaos unter der Bank weiter nach ihrem Zettel. Er musste einfach noch da sein. Er musste!
Sie zog einen dritten Zettel hervor. Unendlich erleichtert erkannte sie ihren eigenen. Nicht mal die Tatsache, dass irgendeine Mango ihren Zettel als Schmierblatt benutzt hatte konnte ihre Laune noch dämpfen. Ja, eine Mango musste es gewesen sein. Al hatte dieses Schimpfwort erfunden um seine verschimmelte Kiwi zu beschimpfen. Das war schon ein Jahr her, doch auch jetzt musste Manon beim Gedanken jemanden als Mango zu beschimpfen noch lächeln.
Wer auch immer diese Mango war, Manon wollte wenigstens wissen mit was sie ihren Zettel beschmiert hatte, daher las sie die wenigen Zeilen, die netterweise mit Bleistift geschrieben worden waren. Immerhin konnte sie sie weg radieren. Doch gleich nach den ersten Worten, beziehungsweise Zahlen stockte Manon. Schnell las sie den ganzen Text, der keine Schmiererei war, sondern eine Nachricht. An sie!
"Versuch es doch mal mit Modulo 4 ;-)
PS: Ich wusste gar nicht, dass es noch jemand anderen auf dieser Schule gibt, der sich mit Dingen wie Modulo Rechnung beschäftigt. Freut mich, ich bin nicht der einzige verrückte! :)
Wer bist du?"
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Damit wir leben
Fiksi RemajaUrsprünglich war Manons Plan zwei Jahre in ihrem neuen Kaff zu überleben ohne dort ernsthaft Wurzeln zu schlagen. Doch dann kam Noah. Und mit ihm eine wunderbare Brieffreundschaft, die Manons Leben veränderte. Sie begann sich ihrem Leben gegenüber z...