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Ich weiß nicht, ob ein  Traum mir die Erkenntnis herangetragen hat,  aber beim Aufwachen weiß  ich es plötzlich. Wie kam ich nur auf die Idee,  „ACAE" würde irgendwie  mehr bedeuten als die Zahlenkombination? Noch  bevor ich die Decke  wegschlage, greife ich nach meinem Handy und suche  den  Nachrichtenverlauf in der App. Ein Glück, dass ich an der Reihe bin,   ihn zu wecken.

Auf die Gefahr hin,  wie eine gewisse Märchenkönigin zu klingen,  und mit der Bitte darum,  dass du dir nicht vor Frust ein Bein ausreißt:  Ist dein Name vielleicht  Moritz?

Nachdem wie von selbst  mein Finger auf das Symbol zum Versenden  getippt hat, schlage ich mir  erschrocken die Hand vor den Mund. 13-15, M-O muss  nicht zwingend eine  Abkürzung sein, genauso gut wären Initialen  möglich. Aber meine Sorge  ist nicht, falsch zu liegen, sondern zu früh  gefragt zu haben. Er  brauche eben eine Weile, bevor er für Treffen  bereit sei, hat er  geschrieben. Ob es ihm zu schnell geht, mir zu  verraten, wie er heißt?  Ob er sich jetzt bedrängt fühlt?

Vielleicht schläft er  lange, grüble ich, als ich ohne Frühstück das  Haus verlasse. Ich werde  mir auf dem Weg beim Bäcker etwas besorgen.  Vielleicht hat er eine  Spätschicht und ruht sich aus, um Kraft zu  sammeln. Vielleicht wird er  mir darauf nicht antworten.

Als ich die Tür zum  Geschäft aufdrücke, fällt mir auf, dass ich nun  doch vergessen habe,  mir ein schnelles Frühstück zu kaufen, also führt  mich mein erster Weg  zum Kühlschrank, zielsicher greife ich nach  Thorstens Joghurt. Die  Kühlschranktür knallt zu und ich zucke zusammen.
„Du  kannst aber  schon lesen, dass da mein Name draufsteht!?" Er versucht,  grimmig  auszusehen, die Schmunzelfältchen in seinen Mundwinkeln sind  dabei  allerdings mehr als auffällig. Dennoch befällt mich ein schlechtes   Gewissen. „Schon gut, dafür bring ich ja immer die doppelte Menge   mit.", beschwichtigt er mich zwinkernd, ehe ich mich entschuldigen kann.   „Und du lädst deine Mutter und mich am Sonntag mal wieder zum Essen zu   dir ein, nicht wahr?", setzt er nach. Lächelnd verdrehe ich die Augen.   „Klar doch, Paps." Er boxt sanft gegen meine Schulter, grinst. Meist   nenne ich ihn bei seinem Vornamen, allerdings gehört er schon zur   Familie, seit ich fünf war, und freut sich jedes Mal über die   Bezeichnung.

Dann zeigt er auf meine  Augenringe. „Vielleicht solltest du die  Ausschweifungen aufs Wochenende  verlegen, Junge.", empfiehlt er. Wieder  ein Augenrollen meinerseits.  Denkt er wirklich, was ich denke, dass er  denkt? Hat er überhaupt einen  kleinen Hauch einer Ahnung, was sich bei  mir seit der Trennung von  Markus verändert hat?

In der Mittagspause öffne ich Second Sight  und stelle  entäuscht fest, dass meine neue Bekanntschaft nicht  geantwortet hat. Es  ist bereits halb eins, da müsste er doch wach sein.  Möglicherweise hatte  er gestern einfach Lust, jemanden zum Schreiben  zu haben, und sieht  heute keinen Bedarf mehr an unserer Unterhaltung.  Aber würde man sich  einem Fremden am ersten Tag öffnen, wenn man nicht  gedenkt, den Kontakt  fortzuführen? Der Verdacht, dass die ausbleibende  Antwort mit meiner  vorschnellen Frage zu tun hat, erhärtet sich. Dabei  könnte er sich auf  unsere Abmachung beziehen und mir schreiben, dass er  sich nicht mehr  melden wird. Dann würde ich nicht die ganze Zeit  darauf warten, als  bräuchte ich dieses Lebenszeichen für meinen inneren  Seelenfrieden.

Anstatt mir den  bisherigen Verlauf noch einmal durchzulesen, auf den  Gesichtspunkt hin  analysierend, ob er an der Stelle wirklich kalte Füße  bekommen kann,  weil ich nach seinem Namen frage, erinnere ich mich an  die  ursprüngliche Funktion der App: Leute kennenlernen, die daran   interessiert sind, jemanden fürs Leben zu finden. Oder meinetwegen für   einen kleinen Teil des Weges. Ich betrachte die neuen Profile in   einer Art Bibliothek, die mir angezeigt wird - obwohl ich an den ersten   beiden Tagen alle außer meinem Fremden aussortiert hatte, könnte ich  sie  nach wie vor anklicken und meine Meinung ändern.

Die neuen Profile scheinen noch weniger herzugeben als die alten, und ich finde mich auf dem Profil von Schlitzohr37   wieder, dem ich offenbar ausschließlich wegen des angepriesenen  Metalls  an seinem Körper keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Dabei  habe  ich mit Piercings kein Problem, eher mit der Art, wie er sich  selbst  damit rühmt, in einer digitalen Anwendung, die genau diese  Reduktion auf  das Äußere vermeiden will. In Ermangelung von  Alternativen und  möglicherweise etwas gefrustet wegen der vergangenen  Nacht, die ich  offensichtlich besser in meinen Schlaf investiert hätte,  revidiere ich  meine Entscheidung über sein Profil. Er ist der  deutschen Grammatik  mächtig und schreibt Liedtexte für seine  Indierockband, und außerdem  kann mir ja nichts passieren. Vielleicht  mache ich es am Ende wie Fremder1315 und ignoriere seine Nachrichten einfach.

Nach Feierabend werde  ich dann doch von einer neuen Nachricht  überrascht und spüre, wie ich  kribbelig werde und den Code zum  Entsperren des Handys zweimal eingeben  muss. Wird er mir nun doch  höflich aber bestimmt mitteilen, dass ich  zu aufdringlich bin? Oder  verrät er mir etwas über seinen Profilnamen?  Gibt es eine Erklärung  dafür, dass ich solange warten musste?

Schlitzohr37:
Hey, erzähl mir doch was über dich!

Ich lese die Nachricht  nocheinmal, ehe mir bewusst wird, dass sie  nicht von dem stammt, von  dem ich sie mir erhofft habe. Ich seufze auf,  doch das habe ich mir  selbst eingebrockt, also antworte ich auch.

Hugo Victor:
Frag mich doch was!

Ich schalte gerade das Licht aus, als ich das Geräusch der eingehenden App-Benachrichtigung höre. Für Schlitzohr werde   ich sicher nicht die halbe Nacht lang wachbleiben, damit er mich  morgen  dann genauso hängen lässt, denke ich, aber zumindest meine  Neugier muss  ich noch stillen. Der Griff zum Handy wird belohnt, denn  ich liege mit  meiner Erwartung schon wieder falsch. Dieses Mal ist es  nicht  Schlitzohr, der schreibt.

Fremder1315:
Dann ist heute also schon später? Dabei hatte ich mich so auf dein Erstgeborenes gefreut!
Moritz   ist richtig. Und jetzt? Ich bin nervös. Kennst du einen Moritz in   meinem Alter in der Stadt? Die laut dir ja doch nicht so groß ist, wie   man meinen könnte...

Er ist nicht böse,  stelle ich erleichtert fest. Bloß ziemlich  unsicher, was ich mir nach  seiner Ankündigung hätte denken können. Und  nun? Ich beschließe, nicht  darauf einzugehen, dass er mich ganz schön  hat zappeln lassen.

Mach dir keine Sorgen, ich bin hinsichtlich neunzehnjähriger Moritze gänzlich unbedarft. Willst du nun auch nach meinem fragen?

Tut mir Leid, dass  ich jetzt erleichtert bin. Ich hatte wirklich  Sorge, du könntest ahnen,  wer ich bin, und hättest ein vorgefertigtes  Bild von mir. Ich will  schon fragen, aber mich lässt auch der Gedanke an  dein erstgeborenes  Kind nicht los. Wirst du eines Tages Kinder haben?

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt