Aus den Gedanken eines Fremden

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Ein Stück in die Zukunft geblickt

Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Das war nicht wirklich Jonathan, oder?

Nachdem er so darauf bestanden hat, überzeugt zu sein, dass die App  nur von hässlichen Männern und Fremdgängern genutzt würde, bin ich ganz  klar davon ausgegangen, dass er sich selbst zu einer der Kategorien  zählt. Zur ersten, habe ich gehofft. Und nur, weil er sich selbst so  sieht, müsste das ja nicht stimmen.

Dabei wäre das ja überhaupt nicht schlimm gewesen. Die Vorstellung  von einem Jonathan, der keine Schönheitsrekorde bricht, der vielleicht  ganz durchschnittlich aussieht, war sogar irgendwie beruhigend für mich.  Dann müsste ich mich nicht so schlecht fühlen, habe ich gedacht. Und  bin überzeugt davon gewesen, dass es in keiner Weise meine positive  Haltung zu ihm beeinflussen würde.

Und nun? Ich kann nicht mal sagen, wieso es mir so wichtig ist.  Andere würden sicher nicht so besessen von einer Person sein, mit der  sie gerade mal einen Monat lang in Kontakt stehen, die sie noch nicht  einmal gesehen oder gehört haben. Vor Allem niemand in meinem Alter,  denn man geht doch vor die Tür, wenn man jemand kennenlernen will. In  die Disco, zu Geburtstagsfeiern von Freunden, zum Sport. Wo auch immer  man eben Leute trifft. Aber das ist mir noch nie gelungen. Vielleicht  habe ich mal jemanden gesehen, der mir gefallen hat, aber den Schritt zu  wagen, ihn anzusprechen, mich damit in die Gefahr zu begeben,  abgewertet zu werden, die Abneigung in seinem Gesicht zu sehen, habe ich  mich nie getraut. Zu schnell ist da die Phantasie eines Menschen, der  mich mögen könnte, in meinem Kopf, die ich die Realität einfach nicht  zerstören lassen will.

Also bin ich bei meinen Phantasien geblieben, bis ich auf die App  gestoßen bin. Perfekt für mich: Wer keine Lust hat, mit mir zu  schreiben, der lässt es sein. Bei dem, der es doch tut, muss ich nicht die kritisch hochgezogenen Augenbrauen ertragen oder sehen, wie er meine Unsicherheit belächelt.

Ob Jonathan das getan hat? Der Jonathan in meinen Gedanken nicht. Der  hat mich verstanden, mich nicht bewertet, für was auch immer ich ihm arglos offengelegt habe. Mir ist schon klar, dass man sich nicht über einen Monat voller Textnachrichten in einen Fremden verlieben kann. Aber  man kann sich in die Phantasie dieses Fremden verlieben, schneller, als einem lieb ist.

Und als er dann dastand, wirklich Jonathan, jede Chance vertan, reine  Phantasie zu bleiben, konnte ich nicht anders, als ihn anzustarren.  Weil: Verdammt, ist er schön.

Wie soll ich mir denn jetzt weiter glaubhaft machen, ich hätte ihn  auch gemocht, wenn er durchschnittlich, langweilig aussähe? Wie soll ich  das Gefühl zurückgewinnen, mich mit ihm auf einer Ebene zu bewegen?

Ein kantiges Gesicht mit ausgeprägter Kieferpartie, ein leichter  Stoppelbart, etwas dunkler als das Haar auf seinem Kopf. Seine Augen  leuchten frech und freundlich, in einem dunklen Blau. Wie Kieselsteine  auf dem Grund eines Baches, wenn Sonnenlicht durch die Wasseroberfläche  bricht, denke ich, als ich sie von Nahem betrachten kann. Starke Arme,  starke Beine, wunderbare Schultern. Ich könnte in Verzückung geraten  über die sich durch den Stoff abzeichnende Muskulatur seines Rückens. Er  sieht männlich aus, ob man das so sagen kann? Immerhin ist Mannsein ja  doch etwas sehr Subjektives. Doch so sieht er für mich aus, wie einer,  der dir seinen Pullover gibt, wenn du frierst, der dich das letzte Stück  des Weges trägt, wenn du dich verletzt hast.

Jetzt ist er echt. Und ich mag ihn noch immer.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt