Pfefferminz-Apfel

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"Es ist so schön, mal wieder als Familie zusammen zu kommen." Meine Mutter seufzt beglückt und tätschelt den Unterarm meiner Schwester, die in meine Richtung die Augen verdreht. Ich grinse sie an - dieses Mal ist sie es nämlich, die die Herzeleien der armen Frau abkriegt, die mit ihren bald sechzig Jahren immer gefühlsduseliger wird.

"Ja, warum konnte Christian nicht mitkommen?", hakt Thorsten nach, für den Familie ein etwas lockerer gefasster Begriff ist als für meine Mutter. Anhang erwünscht.

Sandra zuckt mit den Schultern, aber auch nach fünf Jahren noch glitzern ihre Augen, als sie an ihn denkt. "Der hat wieder Nachtschicht." Thorsten nickt betreten, als ob das etwas Schlimmes wäre. Ist es vielleicht, für eine Beziehung, wenn man nicht den gleichen Rhythmus hat. Christian arbeitet als Sozialarbeiter in einer psychiatrischen Einrichtung. Die Kinder in seiner Gruppe wohnen auf dem Gelände, bis ihre akute Therapie abgeschlossen ist. Rund um die Uhr sind entsprechend Erzieher und Sozialarbeiter zur Stelle. Er hat meine Hochachtung dafür, was er tut, und dafür, dass er meine Schwester glücklich macht.

"Übrigens, wir sind an Fronleichnam zu Rosie eingeladen. Sie wird neunzig und feiert mit der ganzen Nachbarschaft.", lässt meine Mutter uns wissen, als wir noch auf das Fertigwerden des Essens warten, für das ich eine Uhr gestellt habe. "Rosie?", frage ich nach, der Name sagt mir nichts. "Oh, Frau Willms? Die Süße aus Nummer 45?", rät Sandra. Erst bei dem Nachnamen und der Hausnummer geht mir ein Licht auf. Unsere alte Nachbarin scheint nicht so alt zu sein, wie ich als Kind geglaubt habe. Sie wird erst neunzig.
„Wie schade!", fährt Sandra fort. "Ich mochte sie immer gerne, aber ich muss an dem Tag ins Café." Mutters auffordernder Blick geht auf mich über und ich zucke die Schultern. "Ist ja schon gut, ich hab' sonst nichts zu tun.", gestehe ich.

"Das schmeckt gut, was ist da drin, Jonathan, Schatz?" Nun grinst Sandra gehässig in meine Richtung auf Mamas Nachfrage hin, wegen des grauenvollen Kosenamens am Schluss. Ich schneide ihr eine Grimasse und wende mich dann brav meiner Mutter zu. Erkläre, dass ich die Zucchiniblüten mit der zugehörigen Frucht, Reis und Mandeln gefüllt habe. "Und Zimt?", schmeckt meine Mutter heraus, was ich bestätige. "Kein Fleisch, ja?", fragt Thorsten nach, sieht sich um in Richtung der Küchenzeile, als erwarte er, dass dies nur die Vorspeise ist und noch etwas Reichhaltiges auf ihn wartet.

Ich zucke die Schultern. Ist es verrückt, dass ich keines mehr in den Fingern hatte, seit Mo mir geschrieben hat, wieso er darauf verzichtet? Es ist nicht so, als wären mir diese Gedanken nicht auch bereits durch den Kopf gegangen, und offensichtlich konnten sie mich nicht wie ihn dazu bewegen, es aus meinem Ernährungsplan zu streichen. Nur verspüre ich das sonderbare Bedürfnis, gut genug für ihn zu sein. Wenn ich so offensichtlich gegen seine Werte und Moral verstoße, wie kann er mich dann mögen? Mir ist klar, dass ich meine Lebensentscheidungen nicht davon abhängig machen kann, ob Mo mich mag oder nicht, aber es sind erst ein paar Tage und es ist noch nicht so weit, dass dieser Verzicht zu einer bewussten Entscheidung geworden wäre.

"Tja, dann erzähl' doch mal von deinem neuen Freund!", fordert meine Mutter mich auf, während wir auch die von Sandra mitgebrachte Nachspeise vertilgen. Sie scheint unser Telefonat vor sieben Tagen bereits vergessen zu haben, bei dem ich ihr klargemacht habe, dass er nicht mein Freund ist. "Ist es der hüsche Blonde oder der große Dunkle?" Das weiß ich doch selbst nicht, geht es mir kurz abwegig durch den Kopf. Richtig, meine Mutter ist noch nicht auf dem gleichen Stand wie Thorsten und Sandra. Hat er ihr nichts von der Begegnung in der Kneipe erzählt?

"Eindeutig der Blonde.", verkündet Thorsten neben mir schmatzend. Irritiert blicke ich ihn an. Das muss ihm aber wichtig gewesen sein, mir die Antwort abzunehmen, wenn er nicht einmal vorher geschluckt hat. Auch meine Mutter betrachtet ihren Gatten verwirrt.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt