Der nächste Morgen erschien ihr ebenso grausam wie die Ereignisse letzter Nacht, so war er ein Zeichen dafür, dass das Leben trotz all dieser Brutalität weiterging, dass sie sich nicht mehr einbilden, erhoffen konnte, dass es alles nur schändliche Illusionen einer viel zu dunklen Nacht waren. Ihr Körper, ihre ganzes Sein schmerzte unvorstellbar unter den viel zu weichen, schweren Decken, welche sie in ihrem traumlosen Schlaf über sich gezogen hatte. Vor dem stechenden Sonnenlicht zeichnete sich die Silhouette ihrer Mutter ab und ein hilfloses, kindliches Gefühl stieg in ihr auf. Ihre Mutter, sie wäre immer für sie da; ihre Mutter, welche sie als Baby so zärtlich in den Armen gehalten hatte, welche ihr bei Alpträumen immer Schlaflieder vorgesungen hatte. Ihre Mutter würde ihr auch jetzt helfen, die Schrecken bekämpfen zu können! Tränen stiegen abermals in Shias verquollenen Augen auf. »Mama«, flüsterte sie, piepste es beinahe wie ein Neugeborenes.
»Steh auf«, sagte sie kalt, und das imaginäre Bilder zerbrach. Ihre Mutter war nicht länger da, sie konnte so viel rufen, so viel schreien nach ihr wie sie wollte, sie konnte quengeln und weinen, doch ihre Mutter würde niemals wieder dieselbe sein. Sie hatte sie verloren, so, wie sie alles verloren hatte.
Shia begann zu zittern. »Ich kann nicht, Mama. Mama, d-«
»Du kommst zu spät zur Schule. Wir wollen doch Holger nicht wieder verärgern.« Sie ging einfach wieder, mit einem endgültigen Geräusch knallte die Tür hinter ihr zu, und Shia blieb alleine zurück, gebadet in hellem, beinahe heiligen Morgenlicht, welches all die Dunkelheit in ihr niemals tilgen könnte.
Viel zu langsam setzte sie sich auf, spürte die Schmerzen in ihrem Unterleib nur allzu deutlich und blieb viel zu lange einfach so sitzen. Sie wollte nicht aufstehen, wollte noch viel weniger die Treppen nach unten laufen, wo Firo vermutlich gerade gemütlich frühstückte und so tat, als wäre nichts geschehen. Sie wollte ihn nicht einmal ansehen und der Gedanke, wie er sie anstarren könnte, wissend, dass er sie bis auf's Letzte erniedrigt hatte ließ sie schaudern. Trotzdem hatte sie sich innerhalb von mehreren Minuten gezwungen aufzustehen und sich die nächtbesten Klamotten über zuziehen. Ohne ein Blick in den Spiegel zu wagen quälte sie sich mühsam die Treppen runter und hielt sich am Geländer fest, weil ihr alles wehtat von all dem Herumgeschlage letzte Nacht.
Firo saß tatsächlich am Esstisch in der Küche, sein Vater stand an der Theke und trank einen Kaffee während er die Zeitung laß und Shias Mutter lief hin und her und schien Holger sein Frühstück vorzubreiten. Als Shia die Küche betrat, aussehend wie eine Leiche - was sie nur allzugern wäre - starrte Firo sie an. Sie starrte zurück, wollte ihn am liebsten mit ihren Blicken töten, doch da stand schon ihre Mutter vor ihr. »Jetzt setz dich doch endlich! Du machst mich ganz nervös.«
Wortlos setzte sich Shia auf einen Stuhl, auf den, der am Weitesten von Firo entfernt war und starrte auf die Tasse mit Tee, welche ihre Mutter ihr vorsetzte. Es war ihr Lieblingstee. Sie schluckte die erneut aufkommenden Tränen hinunter und trank einen Schluck, welcher viel zu heiß in ihrem Mund schmerzte und nach nichts schmeckte. Shia dachte nicht im mindesten daran, etwas zu essen, saß einfach die Zeit ab, bis ihre Mutter sie mit einem strengen Blick zur Schule schickte.
Sie lief aus dem Haus raus, überlegte den ganzen Weg lang, ob sie sich wirklich in den Unterricht setzen konnte, ob sie nicht einfach irgendwohin gehen sollte, bis ihre Eltern auf die Arbeit gingen und sie sich zurück nach Hause schleichen konnte. Doch am Ende würde ihre Mutter das sowieso doch irgendwie heraus bekommen. Höchstens dann, wenn die Schule bei ihnen zu Hause wegen eines Fehltages anrufen würde. Und dann würde alles nur noch schlimmer werden. Es gab keinen anderen Weg, keine Lösung, wie sehr sie auch nachdachte.
Also lief sie doch weiter, ohne stehen zu bleiben und betrat still und auffällig das Klassenzimmer zum Geschichtsunterricht. In der letzten Reihe machte sie sich klein und starrte aus dem Fenster, dachte daran wie anders noch alles gewesen war vor ein paar Tagen. Als sie das letzte Mal in der Schule war, da war Asura noch an ihrer Seite gewesen. Sie legte ihr Kopf auf den Tisch und schloss die Augen. Ohne Asura ging die Zeit so langsam vorbei. Nur zwei Schulstunden kamen ihr vor wie zehn.
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Asura
Teen FictionEines Tages taucht in Shias trostlosem Leben ein merkwürdiger Junge auf und sie beginnt, all ihre Zeit mit ihm zu verbringen, er ist immerzu bei ihr, gleich einem Schatten. Bald schon prägt sie eine noch viel tiefere Bindung als das und sie muss rea...