9 - Wechselbad der Gefühle

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Montag, 21.09.15. Wie mittlerweile jeden Tag stehe ich lustlos und verschlafen auf, habe die Nacht größtenteils wach gelegen und mir ungesunde Gedanken gemacht, die mich wie ein Schleier verfolgen und nicht von mir ablassen. Schon selbst bin ich genervt davon und will, dass es endlich aufhört. Ich will gar nicht so negativ denken, negativ handeln, negativ leben. Doch dieser dunkle Schleier umhüllt mich mit aller Negativität und ich habe langsam keine Kraft mehr dagegen anzukämpfen.
Ich muss mich beeilen, um den Bus noch zu bekommen. In der Schule angekommen stelle ich mich an meinen Stammplatz, wo einige meiner Klassenkameraden auch stehen, begrüße ein paar Leute und starre auf mein Handy, so wie immer wenn ich meine Ruhe haben will. Diesmal aber nicht lange, denn ich verspüre den Drang zum Vertretungsplan zu gehen und laufe sofort los, an das andere Ende der Pausenhalle. Mein Kopf geduckt, mein Blick am Boden. Hasse ich es doch so sehr, alleine durch diese riesige Halle zu gehen, in der hunderte von Schülern stehen und sich vermutlich gar nicht für mich interessieren, es sich für mich aber so anfühlt, als würden etliche Blicke an mir kleben. Ich bleibe schlagartig stehen, als ich seine Stimme höre. Ich drehe mich um und sehe ihn durch die Menschenmenge laufen. Er lächelt, in seiner Hand hält er eine Tasse. Mein Herz rast, meine Mundwinkel springen wie von selbst nach oben, ich stehe wie angewurzelt hier an dieser Stelle. Er sieht mich nicht, doch ich kann nicht aufhören ihn anzusehen. Als es zum Unterricht klingelt, gehe ich fast wie in Zeitlupe zu den Aufgängen hoch und drehe mich immer wieder zu ihm um. Natürlich kann ich auch die nächsten Unterrichtsstunden an kaum etwas anderes denken und zu meinem Glück muss ich das auch nicht. In Rechnungswesen sollen wir nur eine Aufgabe im Buch bearbeiten und in DV machen Alisa, Leana und ich sowieso nie das, was wir eigentlich tun sollen. DV mit den beiden und auch Jenna und mittlerweile Sophie ist immer witzig. Wir konzentrieren uns zwar kaum auf den Unterricht und machen immer unser eigenes Ding, aber in dem Fach ist das nicht so eng, da sich vieles von alleine erklärt und ich nicht umsonst in einer Laptop-Klasse war. Das meiste was wir hier lernen kann ich schon und so belustigen wir uns auf irgendwelchen Internetseiten wie 9GAG und können uns oftmals vor Lachen nicht halten. Und obwohl das heute genau so wieder ist, muss ich die ganze Zeit daran denken, dass ich gleich zum ersten Mal wieder Unterricht bei Herrn Kleeven haben werde und mich unglaublich darüber freue. Hoffentlich schaffe ich es, mir meinen Platz direkt vor dem Pult zu sichern. Dann kann doch nichts mehr schief gehen. Oder?

Es klingelt zur Pause. Schnell packe ich meine Sachen zusammen und laufe, die anderen ein ganzes Stück hinter mir, so schnell ich kann in die Halle. Noch ist hier nicht viel los und ich steuere zielstrebig auf die Nische zu. Dort angekommen sehe ich, dass seine Tür offen ist und würde am liebsten einfach reingehen und ihn in meine Arme schließen, doch ich traue mich nicht und lehne mich an einen der zwei Tische, die an der Wand vor dem Physikraum stehen. Nach und nach kommen immer mehr Schüler dorthin, sodass von dem Gang selbst nicht mehr viel zu sehen ist. Einige habe ich schon öfter mal gesehen, andere sind mir hingegen völlig fremd. Mein Blick wandert sofort zu seiner Tür, als ich bemerke, dass er diese gerade zuschließt. Daraufhin bahnt er sich seinen Weg vorbei an den Schülern und geht in Richtung Lehrerzimmer. Selten hat sich eine Pause so lang angefühlt wie heute und dennoch fühle ich mich kein bisschen darauf vorbereitet, ihn gleich eine Doppel-Schulstunde lang zu sehen. Innerlich immer noch ein nervöses Wrack, folge ich ihm und meinen Mitschülern in den Raum, als er zurück kommt und diesen wieder aufschließt. Direkt sichere ich mir meinen Platz vor dem Lehrerpult, diesmal jedoch etwas diagonal. So sitzt er zwar immer noch vor mir, aber nicht direkt vor mir. Solea und Christin, die letztes Schuljahr auch in der ersten Reihe saßen, setzen sich neben mich. Es ist ungewohnt, nur noch so wenige bekannte Gesichter um mich herum zu haben. Lina, die auch ein fester Teil unserer „Front"-Gruppe war, ist leider nicht mehr auf der Schule. Es besteht aber weiterhin Kontakt und sie hat schon angekündigt, dass sie uns ab und zu mal besuchen wird. Das Schuljahr ist schon ein paar Wochen alt und dennoch fühlt es sich für mich so an, als würde es jetzt in diesem Moment erst starten, mit der ersten richtigen Stunde Physik.
Während sich jeder seinen Platz sucht, läuft Herr Kleeven durch den Raum und stellt ein paar Sachen hier und da anders hin. Als er sich hinsetzt, holt er seine Kursliste hervor und schaut lächelnd in die Runde. „Schön wieder hier zu sein!", sagt er fröhlich. Und da ist er, der erste kurze Blickkontakt. Mein Herz bleibt für den Bruchteil einer Sekunde stehen. Kurz darauf sagt er seinen berühmten Satz, den wir diesmal beenden sollen. Ich bekomme das Grinsen kaum noch aus dem Gesicht und flüster, für ihn jedoch gut hörbar zu Solea: „Hmm, ich hab's schon vermisst!". Ich sehe ihn an, er sieht mich an, wir lächeln. Sofort spüre ich, wie mein gesamter Körper warm wird und wie sich meine Anspannung verstärkt, als er nun die Anwesenheitsliste durchgeht. Bei meinem Namen angekommen, verändert sich plötzlich sein Ausdruck. Es klingt strenger, sein Blick sehr strack in meine Augen. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken und mit einem Schlag denke ich an die Nachrichten zurück, die ich ihm in den Ferien geschrieben habe und er definitiv gelesen hat. War das ein Fehler? Oder war es gar nur Einbildung, dass er meinen Namen ganz anders gesagt hat, als alle anderen? Unruhig wippe ich auf meinem Stuhl hin und her und fühle mich überfordert mit der Situation. Als er den Unterricht beginnt, kann ich ihn kaum noch ansehen. Ich verspüre plötzlich Angst, ihn mit meinen Blicken zu belästigen, obwohl es doch völlig normal ist, seinen Lehrer anzusehen, wenn er etwas sagt oder erklärt. Immer wenn er in die Runde schaut, blicke ich auf meinen Tisch, aber höre seinen Worten aufmerksam zu. Wie von selbst melde ich mich, als er die erste Frage stellt und ich glaube, er ist genauso überrascht davon, wie ich in diesem Moment. Ich mich melden? Ein Seltenheitsfall trifft ein. Er nimmt mich dran und lächelt, als ich richtig antworte. Von jetzt auf gleich taue ich wieder auf, es ist wie ein Wechselbad der Gefühle. Ich bin hin und her gerissen von meinen Emotionen. Im einen Moment traue ich mich nicht ihn anzusehen, im anderen melde ich mich und will um jeden Preis seine Aufmerksamkeit haben. Ich widerspreche mir selbst durch mein Handeln und verstehen was passiert, kann ich beim besten Willen nicht. Seitdem er mich drangenommen hat, kommentiere ich leise seine Aussagen und versuche, auf all seine Fragen eine Antwort zu finden. Wieder melde ich mich und wieder nimmt er mich direkt dran, sein Gesichtsausdruck erwartungsvoll, aber auch ein wenig überrascht von meiner Anteilnahme. Wenige Augenblicke später melden Solea und ich uns gleichzeitig und wollen genau das gleiche sagen. Wir lachen und streiten uns spaßig, wer drankommen soll, während Herr Kleeven direkt vor uns steht und uns anlächelt. Er sieht uns erst abwechselnd an, hält dann aber den Blickkontakt zu mir. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, in der wir uns ansehen. Nachdem er sein Lächeln verstärkt hat, nimmt er mich dran. Mein Herz schlägt wie wild, mein Kopf ein einziger Matschhaufen. Er geht genaustens auf meine Antwort ein und stellt eine weitere Frage, die ich leider nicht beantworten kann. Mit jedem Satz den er sagt, müssen meine Sitznachbarin und ich immer mehr lachen und können uns kaum noch zusammenreißen. Seine Aussagen und die entsprechenden Posen dazu sind so zweideutig, zumindest für uns, dass wir uns gar nicht mehr konzentrieren können. Im Endeffekt geht es um Polarisierung und darum, einen Stab, in dem Fall seinen Kulli, den er vor sich hält, zu polarisieren. Mit dieser Erklärung fertig, fragt er in die Runde, ob jemand von uns die Kinderserie "Es war einmal – Das Leben" kennt. Ich bin mir nicht genau sicher und sage ein leises nein, welches er jedoch sofort wahrnimmt und mich ansieht. "Du kennst das nicht? Neee ....Echt nicht?", fragt er mich ungläubig, woraufhin ich ihn frage, ob das die Zeichentrick-Serie ist, die den menschlichen Körper erklärt. "Ja genau!", freut er sich. Und ich freue mich mit. Denn jedes Mal, wenn er lächelt, sich freut oder vor sich hin grinst, kann ich nicht anders, als ebenfalls grinsend auf meinem Platz zu sitzen. Er steckt mich mit seiner Art komplett an und auch wenn ich noch immer nervös bin, geht es mir richtig gut. Richtung Ende der Stunde schreibt er einige Sätze an die Tafel, die wir uns notieren sollen und hat hier und da ein paar Probleme bei der Rechtschreibung. "Wie viele, schreibt man das zusammen oder getrennt?", fragt er und dreht sich zur Klasse um. Er hat es getrennt und somit in dem Kontext seines Satzes richtig geschrieben, was ich ihm auf seine Frage hin antworte, jedoch sagen einige aus der Klasse das Gegenteil, sodass er es nach einigem Hin und Her schließlich zusammen schreibt. Sofort nehme ich mir vor, das Zuhause nachzuschauen, da ich mir ganz sicher bin, dass es getrennt geschrieben wird und ich in der Hinsicht sehr eigen bin. Sowas lässt mir dann einfach keine Ruhe mehr, bis ich es nachgeschaut habe.
Als Hausaufgabe sollen wir für morgen die Serie schauen und einen Luftballon mitbringen und damit beendet er die erste Stunde Physik dieses Schuljahres.
Wir packen unsere Sachen zusammen und stellen die Stühle hoch, da es die letzte Stunde für heute in diesem Raum war. Kurz fühle ich mich wie vor den Ferien, denn ich ertappe mich dabei, an meinem Stuhl zu stehen und ihn einfach anzusehen. Kurz darauf gehe ich mit Solea zusammen in die Pausenhalle. Wow. Was eine Gefühlsachterbahn. Direkt freue ich mich auf den nächsten Tag, obwohl der Unterricht bei ihm auf die 9./10. Stunde fällt. Aber für ihn bleibe ich gerne lange in der Schule und auch allgemein freue ich mich jetzt endlich wieder, in die Schule zu gehen. Wie viel Motivation einem das doch geben kann, wenn man jemanden hat, den man mag und den man gerne sehen möchte. Es macht einen wahnsinnig großen Unterschied.
Zuhause angekommen wünsche ich mir schon mit dem Aufschließen der Haustür, dass ich wieder in der Schule wäre. Ich weiß, dass mir meine Freude des heutigen Tages gleich wieder durch irgendeine Diskussion oder einen Streit kaputt gemacht wird. So ist es mittlerweile alltäglich. Als dürfte ich mich nicht gut fühlen, doch schlecht fühlen ebenso wenig. Denn laut Aussage meiner Eltern "kann es mir in meinem Alter noch gar nicht schlecht gehen". Na, wenn sie das sagen...

I know it may not be - Erwachte HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt