325 Tage zuvor

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Als ich am Morgen in den Spiegel schaute, erschrak ich mich zuerst und fuhr dann mit meiner Hand über die kurzen Stoppeln. Heute war schon Samstag und damit fing am Montag die Schule wieder an. Das letzte Schuljahr begann und ich wusste gar nicht, wie ich das überleben wollte.

Matteo und ich waren beide immer gut in der Schule. Wir hatten beide Englisch- und Mathe-LK gewählt, doch war Matteo nur selten da gewesen. Das letzte halbe Jahr hatte er gefehlt, da er nicht mehr die Kraft hatte, in die Schule zu gehen.

Trotzdem hatte ich ihm immer die Aufgaben gebracht. Ich war jeden Tag bei ihm gewesen und hatte mich zu ihm ans Bett gesetzt. Er hatte mich immer mit einem Lächeln begrüßt, was sein bleiches Gesicht erfüllte.

Bevor er krank wurde, hatten wir auch jede Minute miteinander verbracht, seit der 1. Klasse. Doch auch wenn ich schon ein halbes Jahr ohne ihn zur Schule gegangen bin, hatte ich jetzt Angst am Montag mit meinem letzten Schuljahr zu starten.

Die anderen werden mich bestimmt mit Mitleidsbekundungen überhäufen und an jeder Ecke würde ich an ihn erinnert werden. Die Lehrer wussten auch Bescheid und werden mich bestimmt zu einem Gespräch drängen. Ich wollte das alles nicht. Gerade jetzt war ich alleine. Gleichzeitig wollte ich nicht alleine sein, wusste aber, dass ich ihn nie ersetzen konnte.

Schnell schüttelte ich den Kopf um mich von diesen scherzhaften Gedanken zu befreien und mich wieder ins Hier und Jetzt zu bringen. Schnell putzte ich mir die Zähne und klatschte mir eine Menge kaltes Wasser ins Gesicht.

Als ich damit fertig war, ging ich wieder in mein Zimmer. Ich zog mir mal wieder ein schlichtes weißes T-Shirt über und dazu eine kurze Stoffhose. Fertig angezogen warf ich mich auf mein Bett und zog mein Buch hervor.

Lange konnte ich mich jedoch nicht konzentrieren, weshalb ich schnell von meinem Handy abgelenkt wurde. Ich schaltete wieder Musik an, doch auch darauf konnte ich mich heute nicht konzentrieren. Gerade als ich den Entschluss getroffen hatte, mich einfach wieder hinzulegen und zu schlafen, um sowohl meine Gedanken, als auch die Hitze, die in meinem Zimmer zu vergessen, kam jedoch mein Bruder in mein Zimmer.

"Mia, Mama hat gesagt, du sollst mal aus deinem Zimmer rauskommen", sagte er, und schloss die Tür wieder hinter sich. Widerwillig rollte ich auf meinem Bett herum, während ich genervt murrte. Mühsam richtete ich mich auf und ging ins Wohnzimmer, wo meine Mutter saß.

"Was ist?", blaffte ich sie an, als sie mich bemerkt hatte. "So geht das nicht weiter, Mia. Du kannst jetzt nicht jeden Tag einfach in deinem Bett liegen und vor dich hinvegetieren", sagte sie anklagend, aber doch besorgt, "Willst du nicht vielleicht darüber reden? Lad doch mal jemanden ein und unternehmt was zusammen."

Sofort kochte die Wut in mir hoch. "Nicht dein Ernst oder? Mein bester Freund ist gestorben und dir fällt nichts besseres ein als mich darauf hinzuweisen, dass ich mich doch mal mit anderen treffen sollte. Nein, Danke!", schrie ich und drehte mich auf dem Absatz um.

Ich lief in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Das Letzte, was ich noch hörte, bevor ich mir meine Kopfhörer aufsetzte, war, wie meine Mutter "Mia!" rief. Ich verkroch mich mit meinem Handy und der Musik unter meiner Bettdecke und wartete ab, ob nun gleich die Stimme meiner Mutter in meinem Zimmer wiederhallen würde.

Doch nichts geschah und ich wagte einen Blick unter meiner Decke her und setzte meine Kopfhörer ab. Alles war ruhig, nur mein Herz schlug wie verrückt in meiner Brust. Wie sollte ich jemals über ihn hinwegkommen? Meine Mutter hatte gesagt, ich sollte mich mit anderen verabreden, doch da war niemand.

Ich war komplett alleine. Außerdem hatte sie leicht zu reden. Immerhin war ja nicht ihr bester Freund gestorben. Klar, unsere Familien standen sich sehr nah, doch zwischen mir und Matteo war das anders. Wir konnte über alles reden, über dass ich nicht mit meinen Eltern reden konnte. Jetzt hätte ich gerne mit ihm geredet.

Starr blickte ich an meine Zimmerdecke und mir wurde plötzlich kalt. Ich zog die Decke fester um mich und fing an langsam meine Lippen zu bewegen. Sie formten sich ganz natürlich zu Worten. Worte, die ich lange nicht mehr mit jemandem anderen als meiner Familie gewechselt hatte.

"Matteo", flüsterte ich langsam, "Ich vermisse dich. Wie konntest du mich nur so alleine lassen. Ich fühle mich so leer ohne dich." Plötzlich konnte ich vor meinen Augen sehen, wie er in seinem Bett lag und nach meiner Hand griff.

Ich fühlte, wie seine kalten Finger meine umschlossen und er mit seinem Daumen über meinen Handrücken fuhr. "Ich werde immer für dich da sein", hörte ich ihn mit seiner schwachen, aber doch so beruhigenden Stimme sagen.

Tränen schwammen in meinen Augen und als ich blinzelte um sie zu vertreiben, sah ich wieder nur die weiße Decke meines Zimmers vor mir. Er würde immer bei mir bleiben, hatte er mir gesagt. Und obwohl Matteo noch nie eins seiner Versprechen gebrochen hatte, hatte er dieses gebrochen. Er hatte mich alleine gelassen.

Plötzlich trat mich diese Erkenntnis hart und ich erschauderte. Langsam rollte ich mich herum und zog, ohne hinzusehen, meine Nachtischschublade auf. Ich fischte ein Notizbuch hervor und kramte dann noch nach einem Bleistift.

Erschöpft setzte ich mich auf und lehnte mich mit meinem Rücken an die das Kopfende. Mit meinen Fingern begann ich, die Seiten, die chaotisch beschrieben waren, entlangzufahren. Hier und da konnte ich ein Wort sehen, was in kleiner und enger Schrift geschrieben war und jedes Mal jagte es mir eine Gänsehaut über den Körper.

Dieses Buch war schon seit langer Zeit mein Begleiter, in dem ich Wörter, Zitate und sogar kleine Zeichnungen sammelte. Hier und da hatte Matteo meine Notizen kommentiert oder selbst ein Zitat hinzugefügt.

Langsam strich ich über ein Zitat, was er aufgeschrieben hatte: Schließe ab, mit dem was war und freue dich auf das, was noch kommt. Bitter lächelte ich, das war genau die Art Sprüche, die zu ihm passten.

Müde und mit brennenden Augen drückte ich das Buch an mich und ehe ich mich versah, glitt ich in einen ruhigen Schlaf.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt