Wie so oft schon lag ich in meinem Bett und vegetierte vor mich hin, wie meine Mutter es nannte. Ich las, hörte Musik, oder schrieb etwas in mein Notizbuch. Doch die meiste Zeit blickte ich an die weiße Decke und dachte nach.
Das, was Dr. Michel gesagt hatte, hatte mich noch lange beschäftigt. Sie hatte gesagt, dass ich mir nichts verbieten sollte, sondern auch leben sollte. Die Frage, die ich mir jedoch immer wieder stellte, war, wie ich denn leben sollte, wenn er nicht mehr da war, auch wenn ich mir nichts verbot.
Ohne ihn, mit dem ich die letzten Jahre jeden Tag verbracht hatte? Ohne ihn, dem Einzigen, dem ich alles erzählen konnte? Ohne ihn, mit dem ich eigentlich nach dem Abi so viel erleben wollte? Diese Fragen waren Einbahnstraßen.
Seufzend stand ich auf und wollte mir ein Glas Wasser aus der Küche holen, als ich geradewegs Matteos Mutter in die Arme lief. Sie schnappte einmal nach Luft als sie mich sah und ich strich mir verlegen über meine Stoppeln. „Wir mussten nochmal wegen des ganzen Bürokrams und so in sein Zimmer und da haben wir diese hier gefunden.", sagte sie mit belegter Stimme.
Kristina drückte mir eine große Kiste in die Hand, fast so groß wie ein Umzugskarton. Auf der Kiste stand ganz groß mein Name und sie war unsauber mit Klebeband versiegelt. Zögernd nahm ich den Karton entgegen und zwang mich zu einem kleinen Lächeln. Kristina lächelte zurück, doch ihre Augen waren müde und leer.
Sie drehte sich um, verabschiedete sich kurz bei meiner Mutter und verließ dann so schnell das Haus, wie sie gekommen war. Langsam ging ich in mein Zimmer zurück, setzte ich die Kiste auf mein Bett und betrachtete sie sorgfältig.
Matteo hatte früher immer gesagt, dass meine Neugierde größer wäre als mein Verstand, und wie immer behielt er recht. Vorsichtig zog ich am Klebeband, dass sich leicht öffnete, als wäre es schon öfters benutzt worden. Als es ganz gelöst war, öffnete ich langsam die Kiste und atmete tief durch.
Ich wusste ganz genau, dass das, was mich erwartete, etwas sein würde, was wieder alle Wunden aufriss, womöglich sogar noch Salz in diese streute. Doch ich musste es tun. Ich musste wissen, was Matteo in den letzten Wochen seines...in den letzten Wochen gedacht hatte, was er mir hier reingetan hatte.
Mit schwitzigen Händen richtete ich mich auf und warf vorsichtig einen Blick in die Kiste. Doch damit, was ich sah, hätte ich nie gerechnet. Ich sah Kissen. Einfach nur Kissen. Behutsam holte ich ein Kissen, welches mit einem dunkelblauen Kissenbezug umspannt war, hinaus und drückte es an mich. Es roch ein wenig nach ihm und so stellte ich mir vor, ich würde ihn in meinen Armen halten.
Ich würde wie so oft in seinen Armen liegen und er würde mit seiner kalten Hand über meinen Rücken streicheln. Eine einzelne Träne kullerte über meine Wange und ich wusste nicht, was ich jetzt fühlen sollte. Ich war verwirrt, dankbar, traurig, fröhlich und enttäuscht.
Langsam löste ich mich von dem Kissen und legte es wieder in den Karton, damit es hoffentlich nie aufhörte, nach ihm zu riechen. Nach diesem holzigen Duft gemischt mit der Schärfe eines Desinfektionsmittels. Sofort blitzte ein Bild von ihm durch meinen Kopf. Er mit schimmernder Glatze und blassen Haut. Sein Mundschutz blendete in einem beißenden grün. Ich saß bei ihm am Bett und musste mich zwingen nicht zu weinen, doch an seinen Augen konnte ich sehen, dass er lächelte, müde und erschöpft, aber er lächelte.
Er hielt meine Hand fest und streichelte mit seinem Daumen langsam über meinen Handrücken. Ich zwang mich zu lächeln, doch es gelang mir nicht. Behutsam drückte ich seine Hand und schaute ihm in die Augen. In dieses durchdringende Braun, was immer noch strahlte. Schnell schüttelte ich meinen Kopf um diese Gedanken loszuwerden. Ich war hin und hergerissen, zwischen der Schönheit dieser Erinnerung und diesem stechenden Schmerz der damit einherging.
Ich raffte mich auf und trug die Kiste in meinen Kleiderschrank. Die Tür schloss ich, aber ich wusste, dass ich meine Gedanken nie einfach so schließen konnte. Wie in Trance legte ich mich wieder zurück auf mein Bett und blätterte in meinem Notizbuch.
Ich hatte doch mal dieses eine Wort gefunden...da. „Nebulochaotic – a state of being hazy and confused". Trotz der traurigen Situation musste ich unwillkürlich lächeln. Matteo hätte jetzt sicher den Kopf geschüttelt und gesagt, dass ich wirklich für alles irgendein Wort hatte. Er fand es immer etwas nervig, doch hatte es gleichzeitig auch geliebt. Bei diesen Gedanken wurde mir warm ums Herz.
Er fehlte mir so sehr, aber trotzdem war ich froh, ihn gekannt zu haben. Wir haben so viel miteinander erlebt und haben uns jedes Geheimnis anvertraut. Wie oft haben wir abends zusammen gelegen und über alles Mögliche gequatscht. Matteo hatte eine große Lücke hinterlassen.
Jetzt hatte ich niemanden mehr mit dem ich reden konnte, außer Dr. Michel, aber dazu wurde ich ja eigentlich auch gezwungen. Ich wollte jemanden, mit dem ich, wie Matteo und ich das gemacht hatten, bis tief in die Nacht wachbleiben und uns dann draußen auf die Wiese legen und die Sterne beobachten. Wie gerne hätte ich jemanden, mit dem ich das alles machen könnte.
Doch ich wusste, dass ich wahrscheinlich nie wieder jemanden begegnet würde, der so war, wie Matteo. Er war etwas Besonderes gewesen.
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The Bucket List
Teen FictionSie war wie ihr Name. Sie war eine Blume für mich. Eine Blume, die unerwartet durch den grauen Asphalt einer kaputten Straße wächst und zeigt, wie schön das Leben ist. Sie war die Blume und ich der Asphalt. -- Als Mias bester Freund starb, war Mia...