Prolog

111 5 4
                                    

Sie war stark, stärker als je zuvor in ihrem Leben. Und schnell. Sie flog beinahe durch den dunklen Wald ohne zu stolpern oder auch nur denken zu müssen. Sie sah alles, roch alles, hörte alles. Sie fühlte sich frei! Es wäre so leicht alles zu vergessen.

Plötzlich gerieten ihre Pfoten doch aus dem Rhythmus, ein stechender Schmerz zog sich durch ihre Glieder, ihren Rücken, ihren ganzen Körper. Jaulend kam sie mit gesträubtem Fell zum Stehen und kauerte ich gepeinigt zusammen. Etwas stimmte nicht. Da war etwas, das sich an die Oberfläche kämpfte, etwas das ihre Freiheit einschränken würde. Und es tat weh. Ein hohes, wehklagendes Heulen drang aus ihrer Kehle, das zu einem menschlichen Schrei mutierte, als ihr Körper entzweigerissen wurde.

Schluchzend und keuchend lag Ally auf dem schlammigen Boden des Waldes. Nichts war mehr übrig von ihrem Hochgefühl, das sie durch die Nacht getragen hatte. Nichts erinnerte an den stolzen Wolf, in dessen Körper sie gerade noch gesteckt hatte. Einzig das wimmernde, verwirrte Tier in ihrer Brust war Beweis dafür, dass sie nicht verrückt war.

Es war bereits die vierte Verwandlung in dieser Nacht. Sie war durch das ferne Heulen der anderen in ihrem Bett erwacht. Ihr Wolf kauerte sprungbereit, mit gespitzten Ohren und drängte an die Oberfläche. Noch bevor die Schmerzen richtig einsetzten, war sie die Treppen ihres Elternhauses hinunter gerannt und hatte es gerade noch so nach draußen geschafft, bevor der Wolf sie zerrissen hatte. Auf dem Weg hierher war sie kurz wieder Mensch gewesen. Mitten auf einer Landstraße, war sie erwacht. Nackt und ohne Orientierung. Es hatte nur ein paar Minuten gedauert bis ihr Wolf sich wieder die Oberhand erkämpft hatte. Er wollte ihr nichts Böses, er folgte lediglich den Stimmen der anderen. Er musste dorthin und Mittler Weile hatte Ally eingesehen, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Seit der aller ersten Verwandlung, hatte sie gehofft ihre „Krankheit“ geheim halten zu können, doch sie hatte keine Kontrolle darüber wann sie Wolf war und wann Mensch. Ihr Wolf war zu unberechenbar. Sie konnte nicht verantworten, dass sie sich plötzlich verwandelte und jemanden in ihrer Wolfsgestalt verletzte. Sie war kein Monster und ihr Wolf auch nicht. Die Wahrheit, die Ally seit einer Woche verdrängte, war, dass sie abhauen musste. Sie konnte nicht bei ihrer Familie bleiben.

Verzweifelt schlang sie die Arme um ihren Körper. Das ergab alles keinen Sinn, das war einfach nicht möglich. Es gab keine Werwölfe! Das waren Ammenmärchen, die man kleinen Kindern erzählte. Und doch war Ally nun selbst einer. Wie zur Antwort wand sich ihr Wolf in ihrer Brust. Die Stimmen waren verstummt, der Drang zu ihnen zu gehen nicht mehr so stark. Ally hoffte, dass die fremden Wölfe, die sie riefen ihr helfen konnten. Vielleicht fand sie dort einen Ort wo sie ab jetzt bleiben konnte. Unruhig legte ihr Wolf die Ohren an, auch er wollte einen sicheren Ort finden.

Lächelnd wischte sie sich die sinnlosen Tränen vom Gesicht. Sie hatte zwar ihr Leben, ihre Familie und ihre Freunde verloren, doch sie hatte jetzt ihren Wolf und dieser würde für immer ein Teil von ihr bleiben. Er war ihre zweite Seele. Mit einem tiefen Atemzug bereitete sie sich auf die nächste Verwandlung vor. Sie war im Territorium ihres Wolfes, hier war er in seinem Element, also sollte sie ihm wohl den Vortritt lassen. Morgen konnte sie entscheiden wie es weitergehen sollte. Morgen würde sie eine Lösung finden. Morgen war ein neuer Tag.

TWO SOULS-Fremde StimmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt