ALLY
Sie schlug die Augen auf. Einen Moment verharrte sie in völliger Regungslosigkeit, nur ihre Brust hob und senkte sich durch die Atemzüge, die sie ganz bewusst und tief tat. Jedes Geräusch, wie das Raunen der Bäume im seichten Wind, dem Rascheln der kleinen Tiere im Unterholz und das helle Platschen der Regentropfen, die auf die Blätter der Pflanzen schlugen, drang an ihre Ohren. Sie spürte wie sich die spitzen, toten Zweige und die Nadeln der Tannen in ihre nackte Haut drückten und die feuchte, kühle Erde ihr die Körperwärme raubte. Sie roch den fauligen, schweren Duft des Laubes, die würzige Erde, den süßlichen Geruch von Harz und die frische Brise von Wasser. Sie roch das Leben und den Tod gleichermaßen. Sie roch den Wald. Ihre neue Heimat.
Endlich erwachte sie aus ihrem Traum und setzte sich auf. Zitternd schlang sie die Arme um ihre Knie. Erinnerungen der letzten Nacht flackerten vor ihrem inneren Auge auf. Ein kalter Schauer überlief sie. Sie musste sich im Schlaf zurückverwandelt haben. Ihr Leben würde ab jetzt wohl immer so aussehen, nur sie und ihr Wolf, die Kälte, der Regen, der Wald. Das leise Winseln ihrer zweiten Seele riss sie aus den düsteren Gedanken. Er hatte Recht, sie musste sich Kleidung und einen Unterschlupf suchen oder sich verwandeln. Unschlüssig begann sie sich zu erheben, nur um zu erstarren.
Sie war nicht allein auf der kleinen Lichtung. Keine zehn Schritte von ihr entfernt stand ein Mann, der sie scheinbar gelangweilt musterte. Zwischen den Bäumen, halb versteckt, weswegen sie ihn auch nicht sofort entdeckt hatte. Zu ihrer eigenen Überraschung war ihr erster Reflex nicht etwa ihre Blöße zu bedecken, sondern die Zähne zu fletschen und ihn aus einer bedrohlichen Haltung aus anzuknurren. Was sie dann auch ohne zu überlegen tat. Das jedoch, schien ihn keineswegs zu beeindrucken, eher im Gegenteil, amüsiert hob er einen Mundwinkel. „Spar dir das.“, meinte er und warf ihr etwas zu. Doch sie bewegte sich keinen Zentimeter und ließ den Mann nicht aus den Augen. Ihr Handeln war noch immer von ihren Instinkten geleitet, der Wolf in ihr war nach wie vor da. Dicht unter der Oberfläche lauerte er darauf herauszubrechen, einen kurzen Moment wollte sie es und spürte das vertraute, schmerzhafte Ziehen. Ein weiteres, tiefes Grollen entwich ihrer Kehle und die Augen des Mannes weiteten sich kaum merklich.
Erschrocken richtete sie sich auf. Es war, als erwache sie aus einem Traum, ihr Wolf zuckte erschrocken zurück, als Allys eigene Seele ihr Denken vereinnahmte. Beinahe traurig legte er den Kopf auf seine Pfoten, die Zähne allerdings immer noch gefletscht. Keuchend schlang Ally sich die Arme um die Mitte. Was war nur mit ihr passiert? Sie hatte sich selbst kaum noch unter Kontrolle.
NATHANIEL
Das Mädchen bewegte sich nicht, starr lag es auf dem Waldboden. Die helle, weiche Haut mit Kratzern und Dreck verunstaltet und mit kleinen Wassertropfen, die der Regen dort hinterlassen hatte, übersäht. Er meinte zu sehen, wie sich ihre Brust hob und senkte, war sich aber nicht ganz sicher. Ihre Zehen und Finger waren schon leicht bläulich, sie musste unbedingt ins Warme gebracht werden, sonst würde sie erfrieren. Er packte das Bündel Stoff fester und machte einen Schritt auf sie zu.
Plötzlich ging ein Ruck durch sie. Sie setzte sich mit einer anmutigen, fließenden Bewegung auf und schlang die Arme um ihre Knie. Sie musste schon vorher wach gewesen sein und es sah so aus, als ob ihr ihre Nacktheit noch nicht wirklich bewusst oder egal war. Schnell zwang er sich, dem Mädchen ins Gesicht zu schauen.
Sie hatte ein kantiges, spitzes Gesicht, ohne dass es ausgemergelt wirkte. Auch ihre Nase war spitz, die Wangenknochen lagen hoch, sodass es, in Kombination mit den dunklen Ringen, den Anschein hatte, ihre riesigen Augen lägen tief in den Höhlen.
Sie erschauderte und erhob sich langsam und vorsichtig. Sie war groß, nur ein paar Zentimeter kleiner als er, und dürr. Sie wandte den Kopf und ihre dunklen Augen erfassten ihn, sofort spannte sie sämtliche Muskeln an und duckte sich mit gefletschten Zähnen. Das Knurren, war leise, aber mit einer unüberhörbaren Warnung. Sofort kam leben in seinen eigenen Wolf, doch Nathaniel zügelte ihn unverzüglich. Einen Kampf mit einem unbeherrschten Wolf war das Letzte was er gerade gebrauchen konnte. Er hatte sie als diesen weißen Wolf gesehen, da war nichts ansatzweise Menschliches in ihrem Blick gewesen. Sie hatte keinerlei Kontrolle, weder in dieser, noch in der Wolfsgestalt.
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TWO SOULS-Fremde Stimmen
FantasyZwei Seelen, zerrissen zwischen zwei Körpern. Ein Mädchen und ein Wolf, die zusammen gehören und doch nicht eins sind. Und der Ruf fremder Stimmen, die sie in den Wald locken. Ally ist niemals allein, denn da ist dieses Wesen, das in ihrer Brust wo...