Ein Schweizer entgeht der Nazi-Guillotine

25 2 0
                                    

Der Schweizer Paul Stämpfli wurde 1943 in Deutschland wegen «Landesverrats» zum Tode verurteilt. Dank einem Gefangenenaustausch kam er frei und schrieb noch vor Kriegsende seine Erlebnisse im NS-Gefängnis nieder.

Er sei weder Schriftsteller noch Politiker, sondern nur ein einfacher Kaufmann, schreibt Paul Stämpfli im Vorwort seines Buches «In Deutschland zum Tode verurteilt». Das merkt man dem einfachen und holprigen Schreibstil an, doch wirken die Schilderungen dafür umso authentischer: Da reist ein gutgläubiger – aus heutiger Sicht durchaus naiv zu nennender – Schweizer während des Zweiten Weltkrieges nach Berlin, um mit einer Stahlgiesserei einen Vertrag über die Verwertung eines Stahlveredlungsverfahrens zu schliessen. Er wird von der Gestapo wegen angeblichen Geheimnisverrats verhaftet. Möglicherweise ist Stämpfli von einem Geschäftspartner angeschwärzt worden, der alleine vom Vertragsschluss mit der Stahlgiesserei profitieren will. Der Leser erfährt es nicht mit Sicherheit.

Eindrücklich beschreibt Stämpfli die langen Monate im Untersuchungsgefängnis und den Prozess, wobei er das Geschilderte mit dem Abdruck von Original-Prozessakten belegt. Der Leser erhält dabei einen Einblick in das NS-Justizsystem: So war laut Stämpfli nur ein kleiner Kreis von Rechtsanwälten zu den Gerichtsverhandlungen zugelassen – jene mit einer ausgewiesenen Nazigesinnung. Einer von ihnen besucht Stämpfli im Gefängnis und bringt ihm Bonbons. Stämpfli schreibt dazu: «Der Aussenstehende kann sich vielleicht nicht so leicht vorstellen, dass ein erwachsener Mensch sich mit Bonbons ködern lässt.» Aber nach monatelanger Haft voller Angst und Ungewissheit sei man bereit, jedem freundlichen Menschen Vertrauen zu schenken. Es kommt, wie es kommen muss: Der Strafverteidiger macht vor Gericht eine schlechte Figur, und Stämpfli wird vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt – ohne schriftliches Urteil. Was hingegen prompt in Schriftform kommt, ist eine Gebührenrechnung, mit der Stämpfli die geplante Exekution in Rechnung gestellt wird. «Das Köpfen ist im Dritten Reiche durchaus nicht gratis», stellt Stämpfli lakonisch fest.

Berlin-Plötzensee: Warten auf die Hinrichtung

Was folgt, sind belastende Monate im Berliner Gefängnis Plötzensee: Täglich erwartet Stämpfli seine Hinrichtung. Einziger Trost sind ihm die Mitgefangenen. Fast schon pathetisch schwärmt Stämpfli von den tschechischen Leidensgenossen: «Alle diese grossartigen Menschen, darunter ein erster und weltbekannter Prager Chirurg, sind dem Fallbeil zugeführt worden. (...) Nie mehr in meinem Leben werde ich diese Menschen, die geistige Elite eines grossen Volkes, vergessen können.» Nachvollziehbar werden diese Ergüsse, wenn man sich die nationalsozialistische Rassenideologie von «Herren- und Untermenschen» in Erinnerung ruft. Man kann Stämpflis wiederholte Beteuerungen, wie gebildet und erfolgreich seine tschechischen Mitgefangenen sind, als Verteidigung seiner Kameraden gegen die Rassenideologie verstehen. Stämpfli erfasste sehr genau, worum es bei der Rassenideologie letztlich ging: «Es ging den Nationalsozialisten nicht darum, politische Verbrecher abzuurteilen, sondern offensichtlich um die Ausrottung des Tschechentums.»

Im Herbst 1943 werfen die Alliierten Bomben über Berlin-Plötzensee ab. Die Gefangenen hoffen verzweifelt, dass Berlin noch rechtzeitig vor ihrer Hinrichtung befreit würde. Doch als das Gefängnis von Brandbomben getroffen wird, müssen die Gefangenen nicht nur wegen des entfachten Feuers um ihr Leben fürchten: Weil die Gefängnisstadt zu grossen Teilen zerstört wurde und daher zu wenig Platz für die Gefangenen vorhanden ist, soll durch massenhaftes Hinrichten der Verurteilten «aufgeräumt» werden. In letzter Minute wird Stämpfli aus dem Gefängnis entlassen und von Gestapo-Beamten bis in den schweizerischen Grenzort St. Margrethen gebracht. Nach 16 Monaten Haft ist Stämpfli unerwartet frei.

Die wahre Geschichte: Tausch gegen Spione

Wie es zu dieser glücklichen Heimreise kommen konnte, wird im Buch nur angedeutet. Was während dem Krieg nicht explizit gesagt werden durfte: Stämpfli wurde gegen deutsche Spione ausgetauscht, die in der Schweiz gefasst worden waren. Das hat der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich Jahrzehnte nach dem Krieg anhand von Archivquellen herausgefunden. Lubrich hat Paul Stämpflis Erlebnisbericht wiederentdeckt und dessen Schilderungen der Bombardierung des Gefängnisses Berlin Plötzensee in einem Buch publiziert (Oliver Lubrich, Berichte aus der Abwurfzone. Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939-1945, Eichborn, 2007, S. 198 f.).

Offenbar soll Paul Stämpfli nach dem Krieg vorgeschlagen haben, die Ruinen der zerbombten Städte in Deutschland als «landesweite Gedenkstätte» stehen zu lassen – als Mahnmal für die Nazi-Verbrechen (Oliver Lubrich, Die besseren Beobachter?, Wie ausländische Zeugen den Bombenkrieg in Deutschland dokumentieren, in: Beilage der Freien Universität Berlin zum "Tagesspiegel" vom 10. Februar 2007). Zwar erinnert heute glücklicherweise kein weitflächig zerbombtes Deutschland an die Tragödie des Zweiten Weltkrieges, doch Paul Stämpflis Erlebnisbericht ist durchaus als Mahnmal zu verstehen. Wenn auch dem Buch jegliche Selbstkritik abgeht (Stämpfli reflektiert nicht, dass er mit einem Unternehmen aus Nazi-Deutschland einen industrierelevanten Vertrag schliessen wollte), ist es doch ein lesenswertes Zeugnis, da es unmittelbar nach den Geschehnissen verfasst wurde.

Paul Stämpfli, In Deutschland zum Tode verurteilt, Europa Verlag, Zürich/New York 1945. Nur antiquarisch erhältlich. 

Vergessene Bücher (Buchbesprechungen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt