Kapitel 1

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Die Werbetafel hing schief in ihrer Fassung. Grelle Farben, in der Mitte das Getränk eines Herstellers, den es längst nicht mehr gab. Die Witterung war recht sanft mit dem behandelten Papier umgegangen, es hing hinter einer zersplitterten Glasscheibe an der Südwand eines halb eingestürzten Gebäudes. Nur ein paar Risse zogen sich hindurch, zerschnitten die Aufforderung, sich von diesem Getränk erfrischen zu lassen, und ließen nur noch die Neontöne der Farben für oder vielmehr gegen sich sprechen.
Ein Wunder, dass es noch hing, die ganze Straße, über der es einst gethront hatte, war voller Trümmer und Pflanzen, die die verlassenen Städte erstaunlich schnell wieder für sich eroberten. Irgendwie war es tröstlich, zwischen all dem Tod, den zerstörten Mauern wieder ein wenig Leben sprießen zu sehen.

„Amelie? Wir müssen weiter." Nicko fuchtelte mit der Hand vor ihren Augen herum und ihr wurde bewusst, wie lange sie stehen geblieben war. Beschämt senkte sie den Kopf. Es war schwer die Vergangenheit los zu lassen, gerade wenn man so direkt mit ihren Überbleibseln konfrontiert wurde.

„Sorry. Ich war in Gedanken." Sie riss ihren Blick von der Werbetafel los und rückte ihren schweren Rucksack zurecht. Für einen Moment sah Nicko zu der Tafel auf, ein leichtes Schmunzeln überzog sein verdrecktes Gesicht. „Das waren noch Zeiten, wo wir unsere Zeit damit verbracht hätten, uns über derart plumpe Werbung aufzuregen." Sein schwerer Italienischer Akzent war angenehm, und der belustigte Tonfall, der seiner Stimme einen gewissen Schwung verlieh, passte so gar nicht in die zerstörte Umgebung.

Amelie nickte nur. Ihr war nicht danach zu Mute in Erinnerungen zu schwelgen und sie verkniff sich den Kommentar, dass Nicko sie zu der Zeit doch noch gar nicht gekannt hatte. Leider wollte er es nicht dabei belassen. Er zog spielerisch an einer ihrer wirren schwarzen Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen, was ihr ein leises Fauchen entlockte.

„Komm schon. Du musst auch einmal aus deinem Kokon heraus kommen. Gibt es irgendetwas, an das du dich gerne erinnerst?", versuchte er sie aus der Reserve zu locken.

Manchmal kostete es sie fast übermenschliche Kräfte, ihn nicht in sein grinsendes Gesicht zu schlagen.
„Selbst wenn ich es hätte, würde ich es dir nicht erzählen.", nuschelte sie, auch wenn sie zugeben musste, dass sie sich gerne ein mal von seinem Grinsen hätte anstecken lassen. Aber nicht jetzt, nicht so. „Wolltest du nicht gerade noch so schnell weiter? Wenn wir hier weiterhin so in der Gegend herum stehen, kommen wir nie nach Skandinavien."

Er seufzte leise, auch wenn das fröhliche Funkeln seiner Augen blieb. „Du hast ja recht." Er setzte sich in Bewegung, zwischen den Trümmern hindurch Richtung Norden. „Ich bilde mir nur zu gerne ein, dass man sich gegenseitig mal was über sich erzählen könnte, wenn man seit Wochen gemeinsam unterwegs ist. Aber wie du willst."

Die Verletzung in seiner Stimme drückte ihren Brustkorb ein Stück enger zusammen und sie berührte kurz seine Hand. „Ich vertraue dir, okay? Aber es gibt Dinge, über die ich nicht reden will."

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, dann wandte er sich ab. „Das hoffe ich.", murmelte er, so leise, dass sie es kaum hörte.

Die Straße stieg leicht an, doch nach Wochen zu Fuß kümmerte die beiden das kaum noch. Sie kannten die Schwierigkeiten, die die ehemaligen Städte mit sich brachten, und sie wollten sie so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Hier im Nordwesten Deutschlands hatten die Erdbeben zwar nicht ganz so heftig getobt wie in Italien, von wo aus sie sich auf den Weg gemacht hatten, doch auch hier waren viele überrascht worden. Städte hießen Leichen, mehr als man hätte begraben oder verbrennen können, und Leichen waren der perfekte Brutherd für allerlei Arten von Krankheiten.
Medizin war Mangelware, die Antibiotika, die sie zu Beginn ihrer Reise dabei gehabt hatten, hatten sie bei der ersten Gelegenheit gegen eine Waffe und ein wenig Munition eingetauscht. Nicko, der von sich behauptete damit umgehen zu können, trug diese an der Hüfte, während Amelie nur mit eine Messer bewaffnet war. Eine ungleiche Verteilung, doch sie war einverstanden damit. Sie hätte die Waffe zwar sicherlich benutzt, wenn sie müsste, doch sie war froh, es Nicko überlassen zu können. Sie vertraute ihm genug, um zu wissen, dass er sie nicht hintergehen würde, und das hieß eine ganze Menge. Nicht nur für sie, in dieser Welt war Vertrauen ein Luxus, den sich nur noch die wenigsten leisten konnten.

In der Ferne tauchte eine Gruppe Gestalten zwischen den Trümmern auf, hastig zog sie Nicko hinter das nächste Gebäude. Es war zwar eingestürzt, doch seine Wände waren noch hoch genug, um einen Sichtschutz zu bieten.
„Heather hat gesagt, dass hier ne Menge los ist.", meinte Nicko und spähte um die Ecke. „Aber ich dachte wirklich nicht, dass wir schon so früh auf Leute treffen." Er senkte seine Stimme, als er sah, wie die Gruppe näher kam.
„Dachte alle die noch ein bisschen Verstand und Kraft übrig haben, sind nach Norden abgehauen. Wäre ja auch dumm das nicht zu tun."

Amelie hockte sich hin, um auch um die Ecke spähen zu können. Die Gestalten liefen in zügigem Tempo die Mitte der ehemaligen Hauptstraße entlang, dort, wo Gras sich zwischen ehemaligen Straßenbahngleisen empor schoss. Sie bewegten sich selbstbewusst, offen von weither einzusehen. Wer sich so bewegte, musste sich schon sehr sicher sein, seine Umgebung unter Kontrolle zu haben.
„Hat Heather dir gesagt wer hier gerade die Kontrolle hat?", flüsterte Amelie und sah zu Nicko auf, der nur besorgt den Kopf schüttelte.
„Als ich ihr die Infos abgekauft habe war hier noch nichts etabliert, aber das ändert sich hier in Europa die ganze Zeit. Und wer weiß wo in der Welt mittlerweile auch wieder.
Er bewegte sich langsam rückwärts. „Lass uns weg von denen. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache."

Amelie nickte leicht und folgte ihm. Sie befanden auf einer Nebenstraße, die wohl mal eine Allee gewesen war, denn sie mussten über einige entwurzelte Bäume klettern, als sie ihren Weg fortsetzten. Abgestorbene Blätter schlugen ihr ins Gesicht und bei jedem rascheln zuckte sie zusammen.
Nicko hatte seine Waffe gezogen und bahnte sich langsam einen Weg durch das Geäst. Sie mussten keine Worte wechseln, um zu wissen, dass sie beide eine andere Straße bevorzugt hätten. Zu wenig konnten sie hier erkennen, was vor ihnen lag, doch auch zurück zur Hauptstraße wollten sie nicht. Die Fremden mussten nicht unbedingt eine Bedrohung sein, doch sie hatte keine Lust das auf eine unschöne Weise heraus zu finden.

Nicko stolperte dicht vor ihr über einen Ast und ließ für einen kurzen Moment ihr Herz stehen bleiben.
„Pass doch mal besser auf, Mann.", fauchte sie ihn an und half ihm auf, er brummte nur und stapfte stur weiter. So schnell trugen ihn seine Schritte, dass Amelie Schwierigkeiten hatte, ihm hinterher zu kommen. Schuldbewusst senkte sie den Kopf.
Das Fauchen war zu weit gegangen, doch ihre innere Anspannung ließ keinen Platz für Höflichkeit. Hastig hechtete sie ihm hinterher, unter ihren Füßen zerknirschte totes Laub. Heute Abend würde sie sich bei ihm entschuldigen, doch momentan ging es nur darum, dass er vorsichtiger vorging.

Ihr Rucksack blieb an einem Ast hängen, mit einem leisen Fluchen versuchte sie ihn zu befreien, ihre Hände zitterten ein wenig. „Verdammt, komm schon.", fluchte sie und riss an dem Rucksack, der sich mit einem Ruck löste und sie rückwärts taumeln ließ. In diesem Moment ertönte ein Schuss.

Ihr Herz setzte kurz aus und begann dann zu rasen, als sie sich durch die Blätter vorwärts kämpfte. Sie wagte nicht, nach Nicko zu rufen, auch nicht, als ein zweiter und ein dritter Schuss an ihren Trommelfellen zerrte. Sie stolperte, rappelte sich wieder auf, hastete weiter. Er konnte doch nicht so weit vor gegangen sein!

Plötzlich hörten die Äste auf ihren Weg zu versperren, ruckartig blieb sie stehen. Nicko lag ein paar Meter vor ihr auf dem Boden, am Leben, doch sein Bein zierte eine hässliche Schusswunde. Eine junge Frau hielt ihm eine Waffe an die Schläfe. Sie trug eine Jeans und ein ärmelloses Oberteil, jede freie Stelle ihrer Haut war mit Narben übersät. Hinter ihr standen noch eine Frau und drei Männer, auch sie trugen die gleichen Narben, zu gerade und regelmäßig, um nicht künstlichen Ursprungs zu sein.

Einer der Männer grinste Amelie an. „Hab ich doch gesagt, dass der nicht alleine unterwegs ist." Nickos Augen waren riesig, sie schleuderten ihr wortlos eine Aufforderung entgegen: „Renn!"

Amelie rannte. Zurück zwischen die Äste, blindlings hinein in das verwelkte braun. Hinter ihr hörte sie einen Schuss, die Kugel traf nur knapp neben ihr in einen Baumstamm, vor Schreck entfuhr ihr ein leiser Schrei.
Sie folgten ihr, das spürte sie, sie konnte förmlich ihren Atem im Nacken hören. Äste knackten, Zweige rissen ihre Arme auf, griffen nach ihrem Rucksack, ihren Kleidern.

Die Schritte waren dich hinter ihr, sie zog ihr Messer, drehte sich um. Der Mann, der sie verfolgt hatte griff nach ihr, sie stach nach ihm, doch dass schien ihn wenig zu kümmern. Er Packte ihr Handgelenk und drehte es, bis sie gezwungen war ihr Messer fallen zu lassen. Sofort stellte er seinen Stiefel darauf, drehte ihr die Arme auf den Rücken und drückte sie zu Boden.

„Du und dein Freund kommt jetzt besser mal mit. Und wehe ihr wehrt euch, sonst gibt es eine Kugel."

Searching for HerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt