Kapitel 5

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Sie hatten Glück. Das Boot brachte sie einige Kilometer den Fluss herunter, weit genug, um ihren Verfolgern zu entkommen. Als der Motor begann, zu husten und langsam den Geist aufzugeben, atmete Carla tief durch.

„Wir sollten sicher sein, wenn wir jetzt ans Ufer steuern.", meinte sie, ihre Stimme klang erschöpft.

Amelie nickte und setzte sich langsam auf. Ihr Rücken schmerzte, ebenso wie ihr Kopf und an das stumpfe Stechen in ihrem Brustkorb wollte sie gar nicht erst denken. Carla betrachtete sie mit mitleidigem Blick.
„Es tut mir leid, dass wir ihn nicht mit raus gekriegt haben. Aber du lebst noch, und ich auch. Das ist mehr als wir uns erhoffen konnten."

Schon wieder musste Amelie Tränen zurück halten, die in ihr in den Augen brannten.
„Bitte. Rede nicht so von ihm." Sie fuhr sich durchs Gesicht, als sie ihre Hand ansah, merkte sie, dass Blut daran klebte.
Seufzend lehnte sie sich zurück, während Carla sie durch sanft schaukelnde Wellen zum Ufer steuerte. Der Bug schrammte über schlammigen Bogen, dann kamen sie zum Stillstand.

Langsam kletterte Carla heraus und reichte Amelie die Hand.
„Komm. Mein ganzer Körper brennt, und ich denke, dir geht es nicht anders, aber ein paar Kilometer sollten wir schon vom Fluss weg. Zur Sicherheit.", meinte sie, während sie kritisch die Platzwunde an Amelies Stirn musterte.

Wieder laufen. Alles in Amelies Körper sperrte sich gegen die Vorstellung, ihre Beine zu bewegen, doch Carla hielt ihr weiterhin die Hand entgegen.
„Hey. Ich lass dich nicht hier."

Ihre Stimme war viel zu warm für die kalte Wirklichkeit um sie herum. Sie passte nicht hier her.
Dennoch ergriff Amelie nach einigem Zögern die angebotene Hand und ließ sich aus dem Boot ziehen.

„Was bringt es noch, weiter zu gehen.", murmelte sie, als sie die Uferböschung hinauf kletterte. Jetzt schon spürte sie, wie ihre Beine protestierten.

Oben auf der Böschung ließ sie den Blick schweifen. Weitläufige Wiesen breiteten sich vor ihnen aus, dahinter erstreckten sich Felder, so weit der Blick reichte. In der Nähe saß ein Schwarm Wildgänse, ab und zu erklang ein leises Schnattern.

„Es lohnt sich immer." Carlas Antwort kam so spät, dass Amelie fast schon vergessen hatte, was überhaupt ihre Frage war. „Ich werde weiter nach Norden gehen. Meine Frau und meine Tochter warten auf mich." Sie sah sie direkt an. „Wenn du nicht weißt, wohin du sollst, kannst du mich begleiten. Zu zweit haben wir eh bessere Chancen zu überleben."

Amelie überlegte. Warum eigentlich nicht? Es gab unangenehmere Begleitung als Carla und es nahm ihr die Arbeit ab, selbst nach einem Ziel zu suchen. Dem war sie bereits vorher aus dem Weg gegangen. Nicko war es gewesen, der den Takt vorgegeben hatte, mit genug Kraft für sie beide. Es war ihr ein Rätsel geblieben, woher er diese schier unermüdliche Energie genommen hatte. Sein schelmisches Grinsen und die oft unpassenden flapsigen Witze hatte sie genervt, doch sie vermisste ihn jetzt schon schmerzlich.

„Versuch nicht an ihn zu denken." Carla legte einen Arm um sie. „Es tut nur weh, ich sehe es deinem Gesicht an. Nimm dir später Zeit zum trauern, wenn du dem ganzen nicht völlig hilflos ausgeliefert bist."

Amelie seufzte, begann aber langsam los zu laufen. Wasser quietschte in ihren Schuhen und von der Platzwunde an ihrer Stirn lief ihr immer wieder etwas Blut ins Gesicht, das sie weg wischte. Die Stelle schmerzte, aber nicht so sehr, dass sie sich groß Sorgen darum machte.

Die weitläufigen Felder waren eine angenehme Abwechslung zu den zerstörten Städten, die sie zuletzt mit Nicko bereist hatte. Hier war die Zerstörung nicht so allgegenwärtig. Auch wenn hier keine Agrarkultur mehr betrieben wurde, wuchsen noch eine Menge Pflanzen, teilweise auch essbare.

Carla summte beim gehen leise vor sich hin, das monotone Brummen hatte etwas beruhigendes. Nach einer Weile begann Amelie die Beschwerden ihres geschundenen Körpers zu ignorieren und konzentrierte sich nur noch darauf. Der Takt leitete ihre müden Schritte und half ihr, zur Ruhe zu kommen.

Ab und zu kamen sie an kleinen Waldstücken und unbewohnten Gehöften vorbei, während die Sonne zu ihrer Linken auf den Horizont zu kroch.



Der Himmel verfärbte sich bereits rötlich, als sie an einer kleinen Obstwiese voller Apfelbäume ankamen. Viele der kleinen Bäume waren entwurzelt und umgestürzt, doch eine nicht unerhebliche Menge stand auch und trug kleine rote Äpfel.

Carla bleib stehen und streckte sich mit einem lauten Gähnen. „Na wenn das mal nicht perfekt ist.", meinte sie lächelnd und sah sich um. „Ich würde vorschlagen, dass wir uns hier ein provisorisches Nachtlager errichten. Einverstanden?"

Amelie nickte nur müde, die letzte Stunde schon war sie einfach neben Carla her geschlurft, ohne wirklich etwas mit zu bekommen. Erst jetzt, mit dem verlockenden Obst in Reichweite, merkte sie, was für einen Hunger sie hatte.

„Pflückst du uns ein paar Äpfel? Ich sammle uns Holz für ein Feuer zusammen.", bestimmte Carla. An einem der Gehöfte, wo sie vor ein paar Kilometern vorbei gekommen waren, hatten sie ein paar Streichhölzer gefunden, im Angesicht der näher kriechenden Nacht war das ein Segen.
Müde stolperte Amelie zwischen den Bäumen hin und her und pflückte die Äpfel, die tief genug hingen, währenddessen schichtete Carla ein paar trockene Äpfel zu einer Feuerstelle auf, eingerahmt von Steinen.

Sie ging dabei geschickt vor, als mache sie das nicht zum ersten Mal, doch für den Moment fragte Amelie nicht danach. Sie war einfach nur dankbar für die wohlige Wärme, die von den Flammen ausging.

So nah wie es möglich war, ohne Feuer zu fangen, hockte sie sich an die Flammen und reichte Carla einen Apfel, auch sie begann zu essen. Für eine Weile schwiegen sie beide, während sie ihre knurrenden Mägen beruhigten, dann lehnte Carla sich mit einem Seufzen zurück.

Amelie hatte begonnen sich mit den Fingern durch ihre schulterlangen schwarzen Locken zu kämpfen, die sich zu überraschend festen Gebilden verknotet hatten. Der Fluss hatte sie einigermaßen gesäubert, jetzt hatte sie das Bedürfnis, sich einigermaßen ordentlich zu fühlen.

Carla schmunzelte. Auch ihr Haar war verknotet, doch sie schien sich nicht darum zu kümmern. „Dein Haar ähnelt Beas.", meinte sie leise, ein wenig melancholisch. „Meine Tochter." Sie winkte Amelie zu sich herüber und zog ein laminiertes Foto aus ihrer Hosentasche. Neugierig betrachtete Amelie es.

Es war ein Familienfoto, nach Carlas kürzeren Haaren darauf zu urteilen ein paar Jahre alt. Carla saß dort Arm in Arm mit einer Frau mit langen braunen Locken und funkelnden grünen Augen, auf ihrem Schoß saß ein Kleinkind, dessen dunkelbraune Haut und krause Haare Amelies ähnelten.

„Da war sie zwei Jahre alt, ein Jahr, nachdem wir sie adoptiert haben.", meinte Carla leise, ihre Stimme war warm und erstickt zugleich. „Bea ist so ein schlaues Mädchen. Bald ist ihr siebter Geburtstag. Wir haben ihr versprochen, dass wir da wieder beisammen sind, und mit ihr feiern. Als sie sich von mir verabschiedet hat, hat sie mir gesagt, dass sie sich schon darauf freut."
Eine Träne rollte über Carlas Wange. „Sie wusste immer schon, dass sie adoptiert ist, aber für sie sind wir ihre echten Mütter, und sie ist voll und ganz meine Tochter. Meine Kleine. Das wird sich niemals ändern. Und ich werde sie wieder sehen.", murmelte sie und schniefte leise.

Amelie biss sich auf die Lippe, unsicher wie sie mit der Situation umgehen sollte. Carlas Trauer war so tief, so ergreifend, dass sie sich eine Träne verkneifen musste.

Vorsichtig legte sie ihre Arme um die Frau, als diese keine Anstalten machte, sich dagegen zu wehren, zog sie sie sanft an sich und begann sie zu streicheln. Durch die Kleidung hindurch konnte sie ihr wild schlagendes Herz fühlen.
Carlas Körper zitterte leicht, Tränen flossen ihr über die Wangen und durchnässten Amelies Schulter.

Es machte Amelie etwas hilflos, leise summend wiegte sie die Frau in ihren Armen und streichelte sie, wie sie es bei einem Kind getan hätte. Nach und nach wurde Carla ruhiger, sie kuschelte sich an. „Danke.", murmelte sie und Amelie nickte leicht. Sie wollte nichts sagen, was diesen Moment beendete, denn sie spürte, wie gut es Carla tat, für einen Moment los zu lassen und sich der Trauer hinzugeben.

Erst jetzt viel ihr auf, wie selbstverständlich die ältere die Führung an sich genommen hatte und welche Kräfte sie dafür mobilisiert haben mochte. Da war es nur verständlich, dass sie einen Moment brauchte, in dem sie sich einfach nur fallen lassen konnte. Es war das mindeste, das Amelie ihr geben konnte.

Die Flammen prasselten leise und ließen das Holz knacken, während um sie herum die Welt dunkler wurde. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Amelie sich vor den wabernden Schatten der Bäume gegruselt, doch mit Carla in ihren Armen und der Ruhe, die Erschöpfung mit sich brachte, hatten sie etwas tröstliches. Wie ruhige Gestalten, die auf sie bewachten und vor der Außenwelt verbargen, während sie nach und nach in einen tiefen, erholsamen Schlaf glitten.

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