Kapitel 4

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Aus dem Fenster zu entkommen stellte sich schwerer als erwartet dar. Der Griff klemmte. Staub, Dreck und abgebröckelte Tapete hatten sich zu einer erstaunlich zähen Schicht verbunden, die Amelie nur langsam entfernen konnte. Nicko hatte sich gesetzt und wackelte unruhig mit seinem unverletzten Bein herum, Carla tigerte hin und her wie eine ruhelose Raubkatze.

Amelie verstand ihre Unruhe. Jede Sekunde, die sie länger hier verbrachten, war eine, in der ihr Fehlen bemerkt werden konnte. Und wenn das geschah, wollte sie überall sein, nur nicht mehr hier.

Ein Ruck ging durch ihre Hände, als sie es schaffte, den Fenstergriff zu drehen, sie stieß ein erleichtertes „Endlich!" aus. Langsam öffnete sie das Fenster.
Die kühle Luft, die ihnen entgegen strömte, war angenehm, doch sie nahmen sich keine Zeit, um das zu genießen.
Wieder war Amelie die Erste, die sich über das Fensterbrett schwang und zwischen verrosteten Fahrradständern landete. Carla half Nicko auf die Fensterbank, in einer fließenden Bewegung ließ er sich herunter gleiten.

Amelie fing ihn ab und ächzte leise, der schlaksige junge Mann grinste sie an. „Tu nicht so, so schwer bin ich doch gar nicht."

Sein Grinsen tat gut. Es nahm ihr die Angst, die so schmerzhaft an ihrem Herzen nagte, sie müsse ihn eventuell zurück lassen, um selbst ihr Leben zu erhalten.

Carla legte einen Arm um seinen Oberkörper, auf ihre Schulter gestützt humpelte er los. Amelie wollte sich gerade aufmachen, ihnen Zweige und Äste aus dem Weg zu räumen, als hinter ihnen ein schrilles Klingeln erschallte.

„Sie haben bemerkt, dass wir weg sind.", zischte Carla und beschleunigte sofort ihre Schritte, Amelie joggte los. „Weißt du wohin wir können?"

Adrenalin schoss durch ihre Adern. Es war zu früh, der Abstand, den sie zu dem Gebäude hatten, war nicht annähernd so groß wie nötig.

„Nicht wirklich. Wir könnten versuchen zur Ruhr zu kommen, die ist nur ein paar Kilometer südlich von hier.", Carla keuchte beim sprechen, Nickos Last auf ihrer Schulter ließ sie um einiges langsamer vorwärts kommen als die zierliche flinke Amelie. „Die Straßen sind nicht benutzbar, wenn wir Glück haben, finden wir ein Boot oder so etwas."

Verzweifelte Hoffnung lag in ihrer Stimme und Amelie beschloss, sie zu teilen. „Ich nehme Nicko, du zeigst den Weg."
Es gab keine Zeit für Misstrauen, keine Zeit für Fragen oder den Gedanken, dass selbst die paar Kilometer zum Wasser zu weit sein könnten. Nicko gab sich alle Mühe mit ihnen Schritt zu halten, doch selbst Amelies tatkräftige Hilfe brachte nicht viel.

Sie waren eher in einem schnellen Schritttempo unterwegs als zu joggen oder zu rennen und es war nur eine Frage der Zeit, bis bemerkt wurde, dass sie nicht nur ihre Zelle, sondern auch das Gebäde verlassen hatten.

Sie hatten sich gut drei oder vier Kilometer durch verlassene Nebenstraßen und Fahrradwege voller Bäume gekämpft, als Nicko von Amelies Schulter rutschte.

Er gab keinen Laut von sich, nur die Plötzliche Leichtigkeit an ihrer Schulter veranlasste Amelie dazu, sich zu ihm umzudrehen.
Leise keuchend lag er auf dem Boden, der Verband um sein Bein war von Blut durchtränkt.
Sofort versuchte Amelie ihn wieder auf die Beine zu ziehen, rief Carla zu, sie solle ihr helfen, doch Nicko schüttelte hustend den Kopf.

„Ich kann nicht mehr. Lasst mich hier.", stieß er hervor, immer noch nach Atem ringend.

Auch Amelie atmete schwer vor Anstrengung, doch sie überging seine Worte und schlang die Arme um seinen Oberkörper.

„Carla, jetzt hilf mir, verdammt!"

Heiße Tränen traten ihr in die Augen, als sie mit aller Macht an seinem Körper zerrte, versuchte ihn aufzurichten.
Carla zögerte, doch auf einen verzweifelten Blick von Amelie half sie ihr, Nicko auf sein gesundes Bein zu ziehen. Amelie hatte immer noch die Arme um ihn geschlungen, das war das einzige, das ihn aufrecht hielt.

Searching for HerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt