Kapitel 2

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Das Gebäude, in das sie gebracht wurden, war das einzige in der Nähe, dass das Erdbeben relativ unbeschadet gelassen hatte. Direkt am Eingang trennte sich der Mann, der Amelie vor sich her scheuchte, vom Rest der Gruppe und führte sie in einen langen Kellergang. Überraschenderweise hatte das Gebäude Strom, hässliche Neonröhren beleuchteten die dreckigen Fliesen. Der Mann schloss eine Tür auf, stieß sie in einen stickigen Raum und schloss sie wieder. Sofort schmiss Amelie sich dagegen und versuchte die Tür wieder auf zu drücken, doch er hatte sie schnell genug abgeschlossen.
„Verdammte Scheiße!", fluchte sie und trat noch einmal gegen das grau lackierte Metall, dann begann sie das Schlüsselloch genauer zu betrachten.

„Keine Chance, ich habe das auch schon probiert.", erklang hinter ihr eine tiefe Frauenstimme.
Erschrocken fuhr Amelie herum. Der Raum war dämmerig, nur noch eine der Neonröhren hier funktionierte, doch das erschöpfte Lächeln der Frau, die auf dem Boden saß und an einem Bücherregal lehnte, war deutlich zu erkennen. Sie rappelte sich auf, klopfte den Staub von ihrer an den Knien zerrissenen Jeans und reichte ihr die Hand.
„Carla. Tut mir leid, dass sie noch jemanden geschnappt haben."
Ein wenig misstrauisch ergriff Amelie die angebotene Hand, Carla drückte sie fest, dann setzte sie sich wieder.
„Und, wie haben sie dich erwischt?"

Amelie zögerte einen Moment und setzte sich der Fremden gegenüber, ehe sie antwortete. „Warum sollte ich dir das sagen?"

Ein amüsiertes Funkeln trat in Carlas Augen, sie schob sich die schmutzig blonden Haare zurück. „Was ändert es schon? Außerdem sitzen wir im gleichen Boot. Die lassen einen nicht gehen. Entweder man wird einer von ihnen, oder man kann hier unten verrotten."

„Und du bist keine von denen?", fragte Amelie und zog die Knie zum Kinn um sich zu wärmen. Die Luft hier unten war kalt und durchzogen von dem Geruch alter Bücher.

„Würde ich dann hier unten sitzen? Aber klar, jeder hier muss misstrauisch sein."
Carla setzte sich anders hin, ihre Bewegungen wirkten ein wenig hölzern. „Verdammte Kälte. Die geht einem bis in die Knochen.", murmelte sie und rieb sich die bloßen Arme. „Diese Idioten haben mir meinen Rucksack abgenommen, in dem meine Jacke war. Noch nicht mal die Hälfte des Weges geschafft und schon versagt." Trotz der Energie und dem Schwung, der ihrer Stimme inne wohnte, klang Carla ein wenig verbittert.
„Ich denke mal du wolltest auch nach Schweden?"

Amelie zuckte mit den Schultern. Nicko wollte nach Schweden, klar, aber sie? „Denke schon.", meinte sie leise.

Was gerade wohl mit Nicko geschah? Bestimmt hielten sie Frauen und Männer nur getrennt voneinander gefangen und seine Abwesenheit sagte nichts aus. Hoffentlich.

„Du denkst? Wohin warst du denn unterwegs?", fragte Carla, echte Neugierde stand in ihrem Blick.

Abwehr stieg in Amelie auf. „Warum sagst du mir nicht wohin du wolltest und warum, wenn du schon meinst mich löchern zu müssen?", gab sie etwas patzig zurück.

„Ich suche meine Tochter.", kam die Antwort, so schlicht und traurig, dass es Amelie das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Meine Frau konnte mit ihr nach Norden fliehen, während ich beim Katastrophenschutz gearbeitet habe. Ich hoffe sie sind in dem Flüchtlingscamp bei Stockholm. Sie müssen es einfach sein." Während sie sprach, war Carla immer leiser geworden, nervös zupfte sie am Saum ihres Shirts herum.

„Das tut mir leid.", murmelte Amelie. Zu selten kam es ihr in den Sinn, dass andere vielleicht mehr, oder wichtigeren Antrieb hatten als sie. Die Angst in Carlas Augen war echt.
„Mein Freund wollte auch nach Stockholm. Wir gehören zu den Überlebenden des italienischen Sammellagers.", meinte sie leise. Sie hatte das Gefühl Carla ein wenig Ehrlichkeit zu schulden, und das Reden lenkte sie von ihrer Sorge um Nicko ab. „Wir sind zusammen gefangen genommen worden. Weißt du, wohin sie ihn gebracht haben könnten?"

Searching for HerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt