Chlorgas

297 19 12
                                        

Egal welche guten Vorsätze William sich auch zähneknirschend gestellt hatte, zu schnell hatte es sich abgezeichnet, dass Konstantin keinen weiteren Schritt durch die beklemmenden Schützengräben hatte gehen können.

Zuerst hatte der Leutnant nur verkrampft die Zähne zusammengebissen, dann hatte der Brite seinen zitternden Körper stützen müssen, nur damit sein neuer Verbündeter im nächsten Verbindungsgraben hilflos zusammengebrochen war. Zumindest waren es seine Knie, nicht aber sein aufgeweckter Geist.

Er war sich sicher, dass dies wohl für den Elsässer das schlimmste gewesen war, denn er konnte den Scham in seinen tiefblauen Augen erkennen. Für ihn musste das ein Moment der Schwäche sein, der ihm jegliche Würde raubte und ihm seinen letzten Funken Autonomie stahl.

Also tigerte der Sergeant unruhig durch die verwinkelten Gassen des Schützengraben. Altes Holz knirschte ächzend unter seinen Füßen, während er sich gehetzt und rastlos nach einer Gehstütze umsah. Ein altes Gewehr, ein Spaten, einfach irgendetwas, dass dem Deutschen helfen könnte. Es musste nur schnell sein! Wenn sich das schreckliche Geheul von Artillerie und Menschen von Vimy hierher verschob- so unbewaffnet und ohne den Hauch von Deckung wollte er sich das gar nicht vorstellen.

Aber je weiter er suchte, desto lauter wurde die Stimme in seinem Inneren, dass er den Schwarzhaarigen einfach hinter sich lassen sollte. Sicherheit suchen und sich um eine unnötige Last erleichtern. Und diese dunklen Wünsche schwollen von einem durch seine Gedanken kriechenden Flüstern zu einer empörten Tirade an, die laut durch seine Kopf schrie.

Doch etwas in ihm weigerte sich dagegen. Ein leises Stimmchen, das doch kontinuierlich auf ihn einredete. Beschwichtigend.

William konnte ihn nicht einfach verletzt und vollkommen auf sich allein gestellt zurücklassen. Wie oft war ihm das selbst widerfahren? Wie oft hatte er gelitten, als man ihn einfach so zurückließ? Zwischen dunklen Gassen, die sich eng und ohne Licht durch schiefe Wohnblöcke wanden und miefenden Kanälen, deren dickflüssiges Wasser eher Abfälle oder Öl der Reedereien war, der die Hinterhöfe mit erstickendem Gestank erfüllte? Außerdem brauchte er ihn doch, nicht wahr? Er sprach kein deutsch und sollten sie in die qualmenden Überreste eines französischen Dorfes gelangen, wie in das im Kampfgebiet liegendem Monchy-le-Preux? Der Schwarzhaarige wäre seine einzige Chance auf Kommunikation. Zumindest schob er diesen Grund krampfhaft vor und manifestierte dieses Argument in diesen Sturm aus Unsicherheit.

Lustlos stieß er mit seinen Füßen gegen die Überreste eines Stahlhelms. Noch im selben Moment erfüllte ein helles Klirren die Luft und donnerte wie die Schüsse einer Haubitze über diesen Ort, auf dem sich eine Decke der erdrückenden Stille gelegt hatte. Unheimlich, denn das Heulen der schweren Artillerie war verklungen. Nur noch das ferne Knallen von Schüssen gesellte sich dumpf zu dem unwirklichen Klingeln des Helmes und schwebte als matte Drohung über ihren Köpfen und Leben.

Aber genau das war, was William so furchtbare Angst einjagte und einen eisigen Schauder über seinen Rücken jagte. Dieses stille Nichts. Kein anderer Soldat, keine Schreie Verwundeter und nicht der Hauch des Trommelfeuers, das wie Fanfaren einen weiteren sinnlosen Angriff der Infanterie ankündigte, der doch nur in einem Gemetzel und Verlusten mündete. Sinnlose Tote. Junge Männer, denen ihr Leben auf grausamste Weise geraubt wurde. Wenn sich doch nur ein Sieg in der Ferne dieser Tristesse ausmachen ließe- Aber alles wurde verschluckt von dem Schlamm und Blut des Stellungskriegs.

Noch einmal wanderte sein Blick ratlos über den Boden und zwischen die abgestumpften Enden der Stacheldrahtrollen.

Nichts.

Ein entnervtes Seufzen rang sich aus seiner Kehle und er schütte sich einen Schluck des billigsten Fusels in die Kehle. Die farblose Flüssigkeit brannte schrecklich, weckte beinahe schon den Würgereiz und seine Eingeweide schienen sich in diesem glühenden Feuer zu winden, doch es lenkte ihn ab. Weg von dem Tod, weg von dieser grässlichen Verzweiflung und der Ungewissheit, die ihn jede Nacht plagte.

Vom Himmel hochWo Geschichten leben. Entdecke jetzt