Hatte sich Konstantin nicht sogar noch hoch in den Lüften über diesem zerklüfteten Land gefragt, ob man der Toxizität des Chlorgases ohne die schützende Funktion einer Gasmaske entfliehen könnte? Er hatte so sehr gehofft, niemals die Antwort am eigenen Leib spüren zu müssen. Und doch hatte er es getan. Aber er atmete noch. Sein Herz hämmerte weiter in seiner Brust. Er sah. Er fühlte und er fürchtete.
Doch trotzdem hoffte er inständig und in der beklemmenden Stille, dass er so etwas nie wieder erlebte- aber nicht aufgrund seines baldigen Ablebens.
Trotzdem, hätten seine Schleimhäute Stimmen, sie hätten aus Leibeskräften geschrien. Geheult und gekreischt, um diesen schrecklichen Schmerz in dem schrillen Klang zu ersticken, dabei fiel dem Leutnant jeder keuchende Atemzug schwer. Doch der Mann mit dem rabenschwarzen Haar presste seine zitternden Lippen nur krampfhaft aufeinander, um jeglichen Laut des Schmerzes zu unterdrücken, der sich seine Kehle hochkämpfte.
Stattdessen fokussierte er den Flachmann in seiner Hand. Wohl darauf bedacht, nicht in die Williams Augen zu blicken, die in dieser Dämmerung wie zwei reine Smaragde funkelten.
Erneut schnupperte er an der Flüssigkeit, die fahl schimmerte im trüben Licht, das sich waghalsig durch Ritzen und Bretter kämpfte, doch kein nennenswerter Geruch haftete an dem Getränk. Nur ein reines Nichts und der Gestank nach abgestandener Luft und Staub kroch in seine Nase. Augenblicklich schüttelte er sich.
Trotzdem träufelte er sich erst noch eine Perle des Wassers auf seinen Finger, um daran zu kosten, bevor er sich daran machte, seine Augen damit auszuspülen. Doch wieder- nur das klare Nass von Wasser, kein teuflisches Brennen und kein fressender Schmerz. Erfrischend, ein einzelner Tropfen glich seinem verdorrten Rachen als ein Wunder. Ein Sakrileg, eine Erlösung, denn ein Absturz, Williams billiger Fusel und die grenzenlose Perfidität des Giftgases erzielten erste Wirkungen an seinem Körper. Ausgelaugt und hilflos würden seine Situation nämlich am besten beschreiben.
Es kostete ihn viel Überwindung, nur seine Augen und nicht seine ganze Kehle auf einen Schlag mit dem winzigen Sturzbach aus göttlicher Kühle zu benetzen, um auch die letzten Hinterbleibsel des Chlors auszumerzen. Aber als er aufblickte, entdeckte er das matt glänzende Metall einer Flasche in den Händen des Sergeant, als dieser jene zu seinem Gesicht heranführte.
„Warte", schnitt Konstantins Stimme durch die Luft. Ein leiser Klang und doch wirkte er in dieser belasteten Stille eines Grabes wie ein Schrei. „Sei vorsichtig. Du möchtest lieber keine Spirituosen in deinen Augen haben-" für einen Moment schien er sich an seinen nächsten Worten zu verschlucken. Bilder von den zerfetzten Türmen der Burg Coucy und Erinnerungen an das fadenscheinige Plätschern von vergifteten Wassern in Brunnen ließen ihn stocken, aber trotzdem sprach er es aus, was seine Kehle so zusammenpresste. Dieser Tag hatte schon genug Tote gefordert. Die eisige Kälte, aber auch die schrillen Gefechte auf Vimy waren nur ein blasser Vorgeschmack auf all das Grauen der Frühlingsschlacht, das sich wie ein eisiger Mantel des Todes auf sie alle legte. Jegliches Leben erstickend.„-oder gar Vergiftetes."
Bei diesen warnenden Worten griff der Brite zögerlich nach dem Flachmann in den Händen des Leutnants, dessen Klarheit dieser schon längst bewiesen hatte. Zumindest fasste der Firmenerbe das Ausbleiben des misstrauischen Funkeln in den Augen seines Gegenübers so auf, als er sich nun vollkommen das Trinkgefäß unter den Nagel riss und gierig daraus trank, ganz ohne Zweifel.
„Und woher weißt du das? Warst es nicht du, dem man nicht einmal einfachste taktischen Informationen gegeben hat?", setzte dieser jedoch schlagartig nach und der Sergeant unterstrich seine forschenden Worte mit einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue.
Oder war es eher ein unschuldiges Fragen und all die schrecklichen Bilder der letzten Stunden hatten sein Herz mit Misstrauen gepackt, nur um einen noch breiteren Wall aus Eis darum zu errichten? Ein verräterisch knirschendes Eis, das zu schnell und zu plötzlich unter einem unvorsichtigen Schritt klirrend zerspringen könnte. Nur, damit sich die Splitter direkt in sein ungeschütztes Herz graben könnten. Unmerklich pressten sich seine schmalen Lippen noch fester aufeinander, doch Williams bohrende Fragen, die sich immer weiter in die erdrückenden Erinnerungen der Eiswüsten Russlands und die zerstörten Gehöfte des brennenden Ostpreußens gruben, und das kriechende Gefühl der Schuld verlangten von seiner Zungen Antworten.
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Vom Himmel hoch
Historical FictionAuch Helden fallen. Und je höher man fliegt, desto zerstörerischer ist der Absturz. ~ Der Frühling 1917 geht als der blutiger April in die Geschichte ein, doch er ist nur ein Abschnitt in den sinnlosen Kämpfen des ersten Weltkriegs. Egal, ob in den...