❝Die ganze Welt oder Nichts❞
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DER NEBEL UMHÜLLTE SAN FRANCISCO auch an diesem Tag wie ein Schleier, und gab wenig von dem eigentlich strahlend blauen Himmel darüber preis. Das galt alerdings nicht für alle Bezirke der Stadt, denn das Mikroklima San Franciscos schaffte ein System, mit dem jedes Viertel zu jeder Zeit ein anderes Wetter haben konnte, auch wenn dieses Phänomen in den Wintermonaten tendenziell weniger ausgeprägt war. Dem Mission District allerdings machte der Nebel nicht viel aus. Im Osten der Stadt gelegen war das Viertel aufgrund seiner geografischen Lage, die es vor Wind und Nebel aus dem Westen isolierte, oft sonniger und wärmer.
Auch gegen Abend war die Stadt noch hell erleuchtet, als würden ihre vielen Lichter gegen die Dunkelheit der Nacht ankämpfen, und verschluckten dabei die Sterne des Himmelszelts. New York City mochte die Stadt sein, die niemals schläft, doch auch San Francisco wollte noch lange nicht ins Bett.
In einer kleinen Wohnung in der Folsom Street, mitten im Mission District, fielen die Strahlen der Deckenlichter durch die Fensterscheiben und ließen hinter den dunklen Vorhängen Leben erahnen.
„Hörst du je mit dem Lernen auf?", bemerkte Elles Mitbewohner spöttisch, während er es sich mit einer großen Pizza auf dem kleinen, dunkelgrünen Samtsofa aus dem Sperrmüll bequem machte.
Elle saß am kleinen Esstisch, unter dessen Ecke ein altes Lehrbuch klemmte, um das Wackeln der Beine auszugleichen. Sie besaßen nur drei Stühle, jeder anders als der andere, doch im Notfall konnten sie den Tisch von der Wand in den Raum rücken und den alten Ohrensessel als vierten Stuhl verwenden. Die kleine Wohnung wirkte zwar recht zusammengewürfelt, doch hatte ihren Charme.
Gedankenverloren blätterte sie durch das Werk von Bukowski, welches sie sich einige Tage zuvor in der Stadtbibliothek noch ausgeliehen hatte. Sie hatte sich die ein oder andere Stelle mit gelben Post it-Zetteln markiert, eine Angewohnheit, für die ihr Mitbewohner sie gerne verspottete.
Feliciano, von Elle nur Fe genannt, hatte seine dunklen Haare am Hinterkopf zusammengeknotet, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen. Die Beine legte er auf den kleinen Wohnzimmertisch hoch, während er sich ein großes Stück Salami Pizza in den Mund schob.
„Was liest du da überhaupt?", fragte er laut schmatzend und lehnte sich mit einem Arm über die Couchlehne zurück zu ihr.
Elle hielt kurz den Einband hoch in die Luft, sodass ihr Mitbewohner einen kurzen Blick auf den Titel werfen konnte. Dabei nippte sie an ihrer Tasse, verzog aber das Gesicht als sie erkannte, dass der Früchtetee längst kalt geworden war.
„Post Office?", stellte Fe fest und hob kritisch die Augenbrauen. „Das klingt nicht besonders aufregend, und so gar nicht nach einer deiner Neurolektüren."
„Ist es auch nicht", erwiderte sie und setzte die Tasse wieder ab. „Und spannend ist es auch nicht. Im Gegenteil, der Protagonist ist ein mysogynistisches Schwein. Er redet nur davon, wie er den ganzen Tag trinkt und Frauen sexualisiert. Hör dir das bloß an: ‚Sie schien ein bisschen verrückt zu sein, aber ich schaute weiter auf ihren Körper und es war mir egal.'"
„Charmant", erwiderte Fe mit einem spöttischen Grinsen auf den Lippen, bevor er sich wieder dem nächsten Pizza Stück zuwandte.
„Und so geht es das ganze Buch lang", stöhnte sie und ließ sich tiefer in den klapprigen Holzstuhl fallen.
„Und wofür dann das?" Fes fragender Blick deutete auf die Klebezettel, die zwischen den Seiten hervorlugten.
„Weil er, zwischen all dem anderen Mist, dann doch ab und an was Gutes verfasst", seufzte Elle und schlug eine der Seiten auf, die mit einem der gelben Zettel gekennzeichnet waren. „Zum Beispiel ‚Mut kommt aus dem Bauch – alles andere ist bloß Verzweiflung oder ‚Ich war kein kleiner Dieb. Ich wollte die ganze Welt oder Nichts.'"
„Ändert aber nichts an dem Teil mit dem trinkenden Schwein", stellte ihr Mitbewohner fest, zuckte die Achseln und verschlang ein großes Stück Pizza mit einem Biss. Elle beneidete Fe darum, wie viel er Essen konnte, ohne ein Gramm zuzunehmen. Ihr Mitbewohner war schlacksig und hätte als Miniatur-Jesus durchgehen können mit seinen schulterlangen, dunklen Haaren und dem Kinn- und Oberlippenbart. Fehlte nur noch der Vollbart.
„Deswegen ist meine oberste Regel auch, meine Lesefähigkeit allein den Pflichtlektüren des Studiums zu widmen", ergänzte Fe und strich sich pappsatt zufrieden den Bauch.
„Was ist mit deinen Magazinen?" Elle deutete mit dem Blick auf den Stapel von Illustrierten im Regal, deren Vorderseiten die perfekten Gesichter prominenter Hollywood Persönlichkeiten zierten.
„Darling, die kaufe ich nicht zum Lesen", klärte er sie auf und erhob seine Stimme dabei, während sich seine Mundwinkel wieder höher zogen, „die habe ich, um DiCaprio anzuschmachten."
Elle rollte die Augen und lachte. Ihr Mitbewohner war Straßenkünstler, der genauso exzentrisch war, wie es klang. Die halbe Wohnung stand voll mit seinen Leinwänden, die Wände seines Zimmers wurden regelmäßig mit neuen Motiven bemalt, und sie konnte sich kaum erinnern, wann sie ihn das letzte Mal ohne farbbeschmierte Hände gesehen hatte, seit sie sich kannten.
Fe selbst glich einer Kunstfigur, mit seiner bunten Auswahl an Kleidungsstücken und seinen noch ausgefalleneren Sonnenbrillen, die er beide gerne zur Schau trug. Viele der Nachbarstraßen zierten seine Graffiti Kunstwerke, und das ein oder andere Mal war er schon von der Polizei angehalten worden. Doch das störte ihn nicht, Fe schaffte es sich aus jeder Situation heraus zu manövrieren.
Im Gegensatz zu Feliciano, der wusste, dass er nichts als Künstler sein wollte, fehlte es Elle an Vorstellungskraft, was sie einmal mit ihrem Studium so genau anfangen wollen würde. Aber das spielte zu diesem Zeitpunkt auch noch keine große Rolle, sie würde schon etwas finden. Die Neurologie würde im nächsten Jahrtausend noch bedeutender werden, als sie es schon im zwanzigsten Jahrhundert war, davon war Elle fest überzeugt. Wer weiß, womöglich würde eines Tages sogar endlich die Entdeckung gemacht werden, dass für zahlreiche psychische Erkrankungen eine neurologische Fehlstörung nachgewiesen werden kann. Sie liebte die Geheimnisse, die sich ihr eröffneten, vom Großhirn zum einzelnen Neuron und Gliazelle, und diesen Geheimnissen Stück für Stück näher zu kommen.
Sie konnte unmöglich ahnen, welchen Geheimnissen sie sich stattdessen bald nähern würde, noch konnte sie wissen, was sich in diesem Augenblick am anderen Ende der Stadt ereignete.
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Hallo, meine Lieben, das neue Kapitel ist da! Ich freue mich wie immer riesig über jeden Kommentar und Vote.
Alles Liebe, Ally
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𝐙𝐎𝐃𝐈𝐀𝐂 | ✎
Mystery / Thriller»HIER SPRICHT DER ZODIAC.« Die amerikanische Großstadt San Francisco wird von einer Reihe von Morden erschüttert und versetzt die Stadt in Angst und Schrecken, doch der Polizei fehlen handfeste Hinweise auf den Täter - bis Briefe bei lokalen Zeitung...