Der Wille zum Abbruch

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Song: Volbeat - Fallen

Das Erste, das ich wahrnehme ist der kalte Untergrund unter meinem Körper. Meine Gliedmaßen fühlen sich schwer an, ich kann mich kaum bewegen. Jede Bewegung schmerzt, als würden meine Muskeln zerreißen, meine Knochen brechen und die Haut aufplatzen. Ich verziehe das Gesicht, versuche mich aufzurappeln, doch meine Muskeln geben nach. Mir ist die Orientierung entglitten, die Erinnerungen verschwimmen und ich kann nicht einmal sagen, wo genau ich mich befinde. Meine Sinne sind wie vernebelt, es wollen keine klaren Bilder zu mir durchdringen, nur verschwommene Gesichter. Keines davon kann ich Juli zuordnen.

Ich blinzle, will den Schmerz ausblenden und mich auf meine Umgebung konzentrieren. Ein winziger Raum, sowohl die Wände als auch der Boden sind gefliest. Obwohl alles hier drin weiß ist, erlaubt das kleine Fenster mit den Gitterstäben nur wenig Licht. Auf dem Boden robbend nähere ich mich der Tür, um mich an dieser hochziehen zu können. Ich rüttle an der Tür, doch sie öffnet sich nicht. Angst kriecht in mir hoch, die Wände scheinen näher zu kommen. Panisch schlage ich auf die Tür ein, meine Haare fallen mir schweißnass auf die Stirn, verdecken fast meine Sicht. "Holt mich hier raus!" Ich trommle weiter gegen die Tür, versuche sie einzutreten, doch sie gibt nicht nach. Mein Atem beschleunigt sich, die Wände kommen näher, die Decke rückt runter. Bald werden sie mich erdrücken, wenn ich hier nicht bald raus komme. "Hört mich denn keiner?" Tränen bilden sich brennend in meinen Augen und suchen sich ihren Weg meine Wange runter. Ein Schluchzen verlässt meine Kehle, die Kraft verlässt meinen Körper.

Erst als ich leise wahrnehme, wie ein Schlüssel sich im Schloss dreht, taumle ich ein Stück zurück, falle beinahe um. Kurz bevor ich das Gleichgewicht endgültig verliere, fängt mich jemand auf. Ich kralle mich in den Stoff unter meiner Haut, suche Halt an dem Menschen, der mich stützt. Weitere Tränen rinnen aus meinen Augen, während ich mein Gesicht in den Armen der Person vor mir vergrabe. Hände streichen tröstend über meinen Kopf und zum ersten mal seit Jahren fühle ich mich nicht beschmutzt durch Berührungen. "Geht es wieder?" Ein letztes mal kralle ich mich in den Stoff, bevor ich leicht nicke und einen Schritt zurück trete. Erst dann sehe ich ihn an, den Mann, der vor mir steht. Timo. "Danke", nuschle ich verlegen, während ich mir mit dem Arm die Tränen aus meinen Augen und von den Wangen streiche. "Komm mit mir, ich möchte gerne mit dir sprechen." Seine Stimme ist weich und freundlich. Etwas, das ich nicht deuten kann, sagt mir tief drin, dass ich mit ihm gehen soll, mein Herz drängt dazu, mein Kopf jedoch will es nicht. Er möchte lieber fliehen. Raus aus dieser Einrichtung, weit weg von den Menschen, die keine Ahnung vom Leben haben, einfach nur raus. Ich gebe dem Herz nach und folge Timo durch die scheinbar endlosen Gänge, vorbei an den anderen Patienten. Einige schauen mich an und das Bedürfnis, ihnen die Schädel einzuschlagen keimt in meinem Magen auf.

Timo führt mich in einen Raum, der sein Büro zu sein scheint. "Es hat dich gerade viel Selbstbeherrschung gekostet oder?" Verwirrt sehe ich ihn an. "Du wolltest auf die anderen losgehen, ich habe es gespürt. Du hast eine dunkle Ausstrahlung." Ich gehe an ihm vorbei und setze mich auf einen schwarzen Lederstuhl vor dem Schreibtisch. "Ich hätte ihnen gerne die Schädel zerschmettert und ihnen die Kiefer gebrochen", lass ich ihn wissen. Er schluckt hörbar und setzt sich mir gegenüber. "Warum warst du in diesem Raum eingeschlossen?" Ich verdrehe die Augen. "Keine Ahnung, wie ich dahin gekommen bin! Wenn ich den Verantwortlichen dafür finde, sollte er ein gutes Gebet parat haben." Zerknirscht verschränke ich die Arme. Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Das einzige, das immer noch in meinem Gedächtnis ist, sind die Zuckungen meiner Muskeln und wie machtlos ich in diesem Moment war. "Wir müssen an deinen Aggressionen arbeiten, Mika. Du kannst nicht auf die anderen losgehen, sobald sie dir nicht in den Kram passen und vor allem kannst du sie nicht verprügeln!" Sein Blick ist ernst, doch es ist mir egal. "Und wie ich das kann!" Provozierend hebe ich mein Kinn und will aufstehen. "Setz dich wieder hin", fordert er mich auf. "Seit wann hast du mir bitte etwas zu sagen?" Er seufzt. "Seit deine Mutter dich in meine Obhut gegeben hat." Ich stütze mich auf seinem Schreibtisch ab, so gut ich das mit meiner gebrochenen Hand kann. "Ihr könnt mich beide mal. Sie säuft den ganzen Tag und du hast dir alles verspielt, als du dich nie mehr gemeldet hast." Ich bin wütend auf ihn, auf meine Mutter und auf jeden, dem ich begegnet bin. "Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich den Kontakt zu euch gesucht habe, aber nie jemand geantwortet hat?" Ich schnaube. "Schreibst du etwa Briefe? Es gibt eine tolle Erfindung, die sich Telefon nennt, gib das mal auf Google ein!" Jetzt steht auch er auf. "Mika, ich hatte keine Ahnung, dass deine Mutter mit euch einfach verschwunden ist und nichts zurückgelassen hat, das irgendjemandem einen Tipp gegeben hat, wo ihr euch rumgetrieben habt! Glaubst du, ich war begeistert, dass sie sich nach über sechs Jahren bei mir gemeldet hat und so tat, als wäre nichts geschehen? Mir dann noch sagt, dass ihr Sohn aggressiv und Drogensüchtig ist. Denkst du wirklich, dass ich der einzig Schuldige in dieser Geschichte bin?" Er wird mit jedem Wort lauter, redet sich in Rage und atmet zum Schluss einmal tief ein und aus. "Du hättest nach uns suchen können", murmle ich. Es kränkt mich, diese Version zu hören. Ich dachte immer, er wollte nichts mehr mit uns zutun haben.

Zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt