Kapitel 2

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"Du kannst dich doch auch nicht den ganzen Tag in deinem Zimmer vergraben und nichts tun, Jason!", dröhnt Wills Stimme aus dem Telefonhörer.

"Mhm", antworte ich mürrisch.

"Lass uns doch irgendwas machen. Auf den Weihnachtsmarkt gehen oder so."

Wie so oft versucht Will mich irgendwie aus dem Haus zu schaffen. Meine Freude hält sich (ebenfalls wie so oft) in Grenzen, trotzdem kann ich ihm keinen Wunsch ausschlagen. Außerdem will er ja nur, dass ich mich nicht mein Leben lang verkrieche.

"Okay", meine ich also.

"Ich hol' dich ab."

Ich weiß genau, dass ich jetzt rund 10 Minuten Zeit habe mich anzuziehen, damit ich die Tür zeitgleich mit Wills Klingeln öffnen. Zum Glück wohnt er nur ein paar Straßen weiter; auf dem Weg dorthin kenne ich noch von Kindheitstagen jeden Baum.

Es klingelt mal wieder zum perfekten Timing und ich reiße die Haustür auf. Ich kann mir ihn bildlich vorstellen, wie er mit seinem blonden Haar und seinen blauen Augen vor mir steht und mich angringst. Das macht er immer. Unwillkürlich muss ich auch lächeln.

"Hey", sage ich und er erwidert meinen Gruß, bevor wir in Richtung Stadt aufbrechen.

Ich mag die Düfte des Weihnachtsmarkts, so warm und herzlich. Ich rieche Zimt und Bratäpfel, gebrannte Mandeln, und und und. Dort, wo sich alles miteinander vermischt, riecht es am besten.

"Dieses Jahr sogar Schafe!", bemerke ich, als wir an einem kleinen Gehege mit Heu vorbeilaufen.

"Junge, woher weißt du das?"

Ich lache. Immer wieder überrasche ich Will mit irgendetwas, das ich riechen oder hören kann.

"Mach mal die Augen zu, kannst du das Heu nicht riechen? Und dieses kleine Lamm da, das blökt ganz leise."

Will bleibt stehen. Ich gehe zwei Schritte weiter, bevor ich es bemerke, dann drehe ich mich lachend zu ihm um. Ich weiß, dass er die Augen geschlossen hat, krampfhaft versucht durch die lärmenden Leute auf dem Markt etwas zu hören aber trotzdem den Kopf schüttelt.

Trotz vielem Abstreiten spendiert mir Will einen Punsch und gebrannte Mandeln. Nach einigem Rumsitzen und Unterhalten steht Will von der Hokzbank auf, von denen es einige auf dem Weihnachtsmarkt gibt.

"Also, ich bin jetzt noch verabredet. Bleibst du da?"

"Uhuh, mit deiner Jessica, was?", lache ich und ziehe die linke Augenbraue hoch. Will seufzt. Jessica ist seine neue Flamme.

"Bleibst du jetzt da?"

Ich weiß nicht warum, aber ich nicke. Vielleicht, weil ich die Gerüche noch ein wenig einatmem will. Vielleicht aber auch, weil ich gerade einfach keine Lust habe, mit dem Blindenstock den ganzen Weihnachtsmarkt abzutasten. Oder aber auch, weil ich Will keine Umstände machen möchte. Er soll mich nicht immer nach Hause bringen müssen.

"Na dann, machs gut", sagt Will während er sich umdreht und im Schnee davonstapft. Ich bleibe noch sitzen, als würde ich irgendetwas abwarten. Und als ich aufstehe, gehe ich ziellos irgendwo hin. Ich denke nach über Gott und die Welt und merke nicht, wie ich mich immer weiter von zu Hause entferne. Plötzlich bleibe ich stehen. Ungefähr nach einer Viertelstunde.

"Scheiße", fluche ich leise. Es passiert mir nur selten, dass ich mich verlaufe. Jetzt muss ich irgendjemand mach dem Weg fragen. Na toll. Ich höre Schritte einer Person rund 20 Meter vor mir. Gut. Wenigstens jemand, den ich fragen kann. Die Schritte nähern sich aber dann höre ich etwas in den Schnee plumsen. Mehrere Dinge wahrscheinlich. Vielleicht Bücher oder so. Ich höre ein Mädchen fluchen, folge der Stimme und kann sogar helfen die Dinge einzusammeln.

"Oh, dankeschön", sagt sie, als sie sieht, dass ich mich nach ihren Sachen bücke. Tatsächlich Bücher. Ich nicke ihr nur freundlich zu und sammle drei der dicken Wälzer auf.

"Kacke, die sind aus der Bücherei, jetzt sind sie nass."

"Hast du keine Tüte oder so dabei?", frage ich und kann ihren verwirrten Blick fast auf meiner Haut spüren. Da sieht sie wohl erst meinen Blindenstock, den ich fest in meiner rechten Hand halte und bemerkt, dass ich sogar im Winter eine Sonnenbrille trage.

"Äh... Doch, aber es passen nicht alle rein."

"Dann ließt du aber ganz schön viel", bemerke ich lächelnd.

Ich bekomme keine hörbare Antwort. Wahrscheinlich zuckt sie mit den Achseln oder lächelt einfach nur zurück. "Ich geh dann jetzt mal...", sagt sie verlegen.

"Okay", antworte ich einfach nur. Erst als sie weitergeht fällt mir meine missliche Lage wieder ein. Ich drehe mich zu ihr um.

"Du, warte mal! Kannst du mir helfen?"

"Klar. Was gibt's?", antwortet sie freundlich. Ich gehe ein wenig zu schnell auf sie zu und überrumple sie fast. 

"Oh, ähm verdammt... äh sorry", stottere ich. Sie lacht nur und gibt zurück, dass es nicht so schlimm sei.

"Also das Problem ist, ich hab' mich verlaufen und hab' keine Ahnung wo ich bin. Ich sollte heute aber noch nach Hause also... Das klingt jetzt bestimmt richtig scheiße", murmle ich.

"Nein, nein, passt schon", streitet sie ab. "Ich bin nur erst vor kurzem hierher gezogen und kenne mich hier so gut wie gar nicht aus. Ich finde höchstens den Weg in die Stadt und wieder zurück wenn's gut läuft."

Ich lächle sie an. "In die Stadt reicht schon. Könntest du eventuell...? Ich würde dir dann sogar ein paar Bücher abnehmen."

Sie lacht. "Sicher komm mit!", erwidert sie und drückt mir drei Bücher in die Hand.

Meine SonneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt