Kapitel 1

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"Wo hast du denn gesteckt?", raunt meine Mutter, als sie die Tür öffnet. Ich denke nicht, dass sie eine Antwort braucht, also gehe ich an ihr vorbei in den Flur und ziehe mir die nassen Schuhe aus. Dann latsche ich in mein Zimmer und lasse mich träge auf mein Bett fallen.

Ich taste die Bettdecke nach meinen Kopfhörern und meinem iPod Shuffle ab. Obwohl ich nur die wenigsten von ihnen schwarz auf weiß gelesen habe, kenne ich jeden Titel der 500 Lieder auf dem Player; mehr als die Hälfte kann ich auswendig. Klar habe ich Beats - wenn ich schon nicht sehen könne, solle ich wenigstens anständig hören können, behauptet meine Mutter. Sie tut alles, damit ich mich zurechtfinde und wohlfühle. Das ist zwar nett, es wäre aber schöner, wenn sie es nicht tun müsste. Meine Familie leidet sehr unter meiner Blindheit, nicht zuletzt auch meine kleine Schwester Thea. Ich bin und bleibe schließlich ein kleines Kind, um das man sich kümmern und auf das man Acht geben musste. Egal, ob ich will oder nicht. Sie kommt sich oft benachteiligt vor und ich kann sie verstehen. Ich kann ihr nicht verübeln, dass sie mich zeitweise hasst wie die Pest.

Es ist schwer für mich mir ein Bild von Menschen zu machen, die ich noch nie gesehen habe. Deshalb lasse ich nur ungern andere Leute in mein Leben, die ich noch nicht kenne.

Jakob, Will und Melina sind meine einzigen Freunde, die ich schon länger als 3 Jahren kenne. Leider ist von ihnen nur Will in meiner Klasse und sitzt Gott sei Dank in jedem Fach neben mir. Er kann sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich das schätze und wie sehr ich mir wünsche ihm das zurückgeben zu können, aber das ist unmöglich.

Boulevard of broken dreams klingt in meinen Ohren.

I walk a lonely road,

the only one that I have ever known.

Don't know where it goes,

but it's home to me and I walk alone.

Ich gehe die Straße des Lebens

und es ist die einzige die ich kenne und jemals kennen werde.

Ich weiß nicht wo sie hinführt,

aber die ist meine Heimat und ich muss sie alleine gehen.

Das Leben fragt dich nicht, ob du gerne eine andere Straße gehen würdest. Es gibt nur diese eine Straße - das Leben. Die Leute sagen immer, du sollst deinen Weg wählen,  damit du ans Ziel gelangst, aber das stimmt nicht. Du läufst immer weiter, egal was geschieht, vielleicht erreichst du dein Ziel, vielleicht auch nicht. Und wenn dein Augenlicht verloren geht, gehst du eben blind weiter.

Aber ich habe ein Problem.

Ich habe das Ziel aus den Augen verloren.

Meine SonneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt