1. Kapitel Josy

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New York. Der Broadway ist wie jeden Tag stark überfüllt. Dichte Menschenmassen schupsen mich hin und her wie einen Ping Pong Ball. Aber das ist gut so. Ich muss unauffällig und unscheinbar sein. Die Abendsonne lässt die längste Straße in New York City in einem goldorange erscheinen. Sonnenuntergänge wie diesen lassen die Skyline unendlich, unsterblich und mächtig wirken. An jeder Ecke stehen Straßenkünstler, bunte Musik sprüht aus den verschiedensten Geschäften.
Ich bewege mich gemächlich die Straße Richtung Norden entlang. Jeder meiner Schritte ist geplant und vorher ausdiskutiert worden. Ein kleiner Essensstand erweckt meine Aufmerksamkeit. Asiatische Delikatessen. Mein Magen zieht sich zusammen, als wolle er protestieren. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mich nicht einmal an meine letzte warme Mahlzeit erinnern kann. Doch das muss jetzt warten. Es gibt schließlich wichtigeres.
Als wenn ich es geahnt hätte, ertönt in diesem Moment ein lautes, unangenehmes Piepsen an meinem Ohr. Ich kann ein erschrockenes Zusammenzucken nicht verhindern. „Four! Du hast noch 30 Minuten. Schwing deinen Arsch gefälligst von der Broad.", schallt es aus meinem schwarzen Ohrstöpsel. Die Worte hallen noch einige Sekunden in meiner Muschel nach. Verdammt, schon wieder war der Lautsprecher viel zu laut eingestellt. Doch ich wollte auf keinen Fall mein Kommando verpassen und drehe dann lieber die Lautstärkeregelung einige Nuancen höher als nötig.

30 Minuten bis zum Zugriff. Ich war also noch gut in der Zeit. Natürlich wusste ich, dass ER mich beobachtet. ER sagt ja selbst immer, heutzutage wäre auf niemanden mehr Verlass. Und doch verletzt es mich irgendwie. Schließlich arbeite ich nun schon seit 5 Jahren für ihn. Plötzlich rempelt mich von der Seite eine Frau an. Ich will sie gerade anfahren, ob sie nicht aufpassen kann, da ist sie schon wieder in dem Meer aus Menschen untergetaucht. Aber das ist jetzt nebensächlich. Meine ganze Aufmerksamkeit muss nun auf der kommenden Stunde liegen.

Endlich erreiche ich das Masso Espresso. Früher habe ich mich hier oft mit meiner besten Freundin Matty getroffen. Wir haben uns stundenlang über die neusten Geschehnisse unterhalten, über die vorbeigehenden Menschen gekichert und unsere Sorgen geteilt. Aber das war lange Zeit bevor ER kam. Jetzt weiß ich nicht, wo Matty ist. Ich habe sie schon sehr lange nicht mehr gesehen. Angespannt schaue ich mich um.
Am Masso Espresso führt eine Straße in eine kleine Nebengasse. Doch bevor ich darin verschwinde, will ich sicher gehen, von niemandem beobachtet zu werden. Aber die kaufsüchtige, unechte Welle aus Menschen vor mir nimmt mich überhaupt nicht war. Nur ein kleiner Junge mit einem Jojo guckt mich aus großen, blauen Kulleraugen an, während er sich hinter dem Körper seiner Mutter zu verstecken versucht. Diese ist jedoch in ein eifriges Gespräch mit, mir scheint es einer bekannten Freundin, verfallen, die sich wohl gerade getroffen haben. Beide Frauen machen auf mich einen unwirklichen Eindruck. Stark aufgetragener Lippenstift, knappe Kleider, hohe Schuhe und ein falsches Lächeln. Kopfschüttelnd drehe ich mich von ihnen weg und werfe einen Blick auf die Uhr. Es wird Zeit.

Langsam ziehe ich mich in die kleine Seitengasse zurück. Es ist mal wieder ein idealer Ort für SEINEN Plan. Ich finde es erstaunlich, wie bei jedem Schritt, mit dem ich mich von der Broad entferne, die Lautstärke abnimmt. Ich genieße die angenehme Ruhe. Es ist alles falsch. Der Brodway. Die Menschen. Die Geschäfte. Die Gesichter. Ich hasse es.
Hier, nicht weit entfernt von all dem Trubel, kommt erst das wahre Gesicht von New York City zum Vorschein. Ich habe mal gelesen, dass von 8,5 Mio. New Yorkern 60000 Obdachlose hier leben. Ein Blick um mich herum bestätigt nur die große Armut vieler Menschen, die von ihr verschluckt, gekaut und wieder ausgespuckt werden.
Neben mir hustet ein Mann mittleren Alters. Er sitzt hier im Dreck, neben ihm ein treuer Hund. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass der Mann gepflegt wirkt. Zumindest soweit man davon sprechen kann und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er hier auf der Straße zuhause ist. Ich kenne viele dieser Menschen.
Viele ihrer tragischen und sehr traurigen Geschichten. Einer meiner besten Freunde ist selbst ein Obdachloser. Fred. Fred ist sowas wie ein Opa für mich. Er ist unglaublich lieb und hat ein riesiges Herz. Erst vor zwei Jahren hat er mir sein Schicksal anvertraut. Er war ein Professor an der Universität und lebte in einer wundervollen Villa in einer der wohlhabendsten Gegenden in ganz New York. Als er mir das erzählte lächelte er sehnsüchtig. Doch in seinem Blick erkannte ich auch tiefe Trauer. Ich weiß noch, wie ich aus einem Impuls heraus nach seiner Hand griff und sie kurz fest drückte, bevor er weiter erzählte.
Mit Stolz in der Stimme berichtete er mir von zwei Kindern und einer wundervollen Frau. Niemand auf der ganzen Welt konnte so leckere Puncakes backen wie sie. Als sie 2005 von einem Sommerurlaub aus Europa zurückfliegen wollten, gab es mit der Airline Probleme. Kurzerhand entschloss Fred, seine Kinder und seine Frau in einen Flieger zu setzten und mit dem nächsten nachzufliegen. Ein Blick in sein Gesicht zeigte, dass an jenem Tag etwas Schreckliches passiert sein musste. Fred erzählte mir mit erstickter Stimme, dass er einige Stunden später die Nachricht erhielt, dass das Flugzeug mit seiner gesamten Familie, seiner Liebe, abgestürzt sei. Zurück in New York war er unfähig, weiter als Professor zu arbeiten.
Nach einigen Monaten verlor er schließlich den Job und konnte Rechnungen nicht mehr bezahlen. So landete er auf der Straße. Obwohl ich niemals dabei war und mir wahrscheinlich nicht im Entferntesten vorstellen kann, wie sich Fred gefühlt haben muss, kamen mir bei seiner Erzählung Tränen und ich hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper.

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