5. Kapitel Josy

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Grelles Licht. Ein ohrenbetäubender Knall. Geschrei. Schritte und viele wirre Stimmen, die durcheinanderreden. Und dann ihr Gesicht. „Schatz? Schatz, hör mir zu!" Ist das Mom? Sie lächelt mich an. Noch nie habe ich eine so hübsche Frau gesehen. Ihre blonden Strähnen fallen ihr in das Gesicht, rahmen es perfekt ein und glitzern in der Sonne. In ihren Augen spiegeln sich unglaublich viele Sterne. Unendlich viele. Sie kommt mir vor, wie ein Engel. „Mom?", vorsichtig hebe ich meine Hand, denn ich kann nicht glauben, dass ihre Erscheinung echt ist. „Mom?" „Ach, Jo. Nein." Ihre Stimmung kippt, als wenn jemand einen Schalter umgelegt hätte. Sie lächelt nicht mehr. Ihre Augen füllen sich mit einer Flüssigkeit und eine dicke Träne löst sich aus ihrem rechten Augenwinkel. „Mom?" Mir ist eiskalt. Ich will ihr die Tränen nehmen. Jede einzelne trocknen und aus ihrem Gesicht zaubern. Aber warum ist sie so traurig? „Jo, lauf!" Nun verzerrt sich ihr Gesicht vor Wut. Sie brüllt mich an „Lauf, Jo, lauf!" Aber ich kann nicht. Ich kann mir nur meine Ohren zuhalten und wimmern. „Lauf!" kreischt sie wie eine wild gewordene Furie. „Nein!"

Ich schnelle hoch. Mit schwerem Atem versuche ich mich zu orientieren. Wo bin ich? Kühle, raue und dreckige Wände. Meine wenigen Habseligkeiten liegen etwas zerstreut auf dem Boden in diesem kargen Raum herum: Mein Handy, einige Klamotten und mein Notizbuch. Ok, es war nur ein Traum. Schon wieder.

Ich wische mir einige Strähnen aus dem Gesicht, die durch den Schweiß fest an meiner Stirn pappen. Mein Brustkorb hebt und senkt sich noch immer viel zu schnell. Langsam rapple ich mich auf und schleiche auf meinen nackten Fußsohlen aus dem improvisierten Zimmer.

Der sich vor mir erstreckende Gang ist tiefschwarz. Hier im Untergrund gibt es kein Licht. Hier wird niemals die Sonne scheinen. Niemals. Aber für mich war das noch nie ein Problem. Die Dunkelheit hat mir schon immer ein Gefühl von Zuflucht und Sicherheit gegeben. Wenn es dunkel ist, siehst du den Dreck der Stadt nicht mehr und das Leiden der Menschen hier. Wenn es dunkel ist, ist jeder Mensch anonym. Ich kenne hier jeden Stein, jede Mauer, jeden Raum. Ich lebe hier schließlich schon seit fünf Jahren und hier ist kaum einer dein Freund. Es ist gefährlich, hier zu leben und das weiß ich auch. Umso besser, die Umgebung gut zu kennen.

Obwohl ich mich bemühe, leise zu sein, hallen meine Schritte von den kahlen Wänden wieder. Es ist zwar schon März, der Untergrund kennt dennoch keine Wärme. Der kälteste Monat New Yorks mit einer Durchschnittstemperatur von -0,4 Grad Celsius ist der Januar. Ich hasse diesen Monat. Meine Kleidung ist ständig löchrig und kaputt. Mein Geld will ich aber nicht für solche aus meiner Sicht belanglosen Dinge verschwenden. Nein danke. Doch jetzt fröstelt es mich.

Ich habe vor einigen Stunden meine schwarze, mittlerweile an den Knien aufgeschürfte Röhrenjeans gegen eine gemütliche Jogginghose von Two eingetauscht. Two ist neben Five meine einzige echte Freundin. Glaube ich zumindest. Ich kenne ihren echten Namen nicht, genauso wenig wie den von Five. ER wollte uns eine neue Identität schaffen. Keine Vergangenheit, hatte ER gesagt. Aber ist das nicht egal? Oder können auf solchen Geheimnissen keine echten Freundschaften aufgebaut werden? Ich weiß es einfach nicht.

Erschöpft klatsche ich mir einen Schwall kaltes Wasser in mein Gesicht. Ich stehe in einem noch kleineren Raum, als in dem, in dem ich immer schlafe. Den Blick in einen kleinen vermoderten Spiegel spare ich mir, denn es ist eh viel zu dunkel um noch etwas sehen zu können.

Wie eine aufgezogene Puppe tapse ich weiter zu dem Raum, in dem Five liegt. Er schnarcht leise und brummt dabei wie ein zufriedener Bär. Ohne ihn zu wecken, gleite ich geschmeidig unter seine Decke. Sie ist ganz warm und lässt mich lächeln. Fives Gesicht ist zur gegenüberliegenden Wand gerichtet, sodass ich mich an seinen breiten Rücken schmiegen kann.

Die letzte Nacht hat mich mitgenommen. Erst der Schuss, dann der Kampf. Bei dem Gedanken schmerzen mir noch immer Knie und Kiefer. So oder so würde mein Gesicht im morgigen Tageslicht wie eine blaue Habenichtse blühen, mal wieder. Dabei will ich doch noch los. Ich habe so schon kaum Zeit für meinen einzigen Funken an Normalität, dem ich die letzten Jahre noch nachgegangen bin.

Kurz bevor ich wieder in einen bleienden Dämmerungsschlaf verfalle, kreisen meine Gedanken wieder um das viele Geld, das wir nach dem letzten Cup bekommen haben. Da passte etwas nicht. Und was wohl aus dem Angreifer geworden ist? Oder aus dem Besitzer des Winters? Ich weiß es einfach nicht.

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