2. Kapitel Rio

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Verbittert blicke ich den Rauchfäden meiner Zigarette hinterher, wie sie schweben und sich dann in der Luft aufzulösen scheinen. Manchmal wäre ich auch gerne so. Manchmal würde ich einfach gerne verpuffen. Raus aus dieser Welt. Mit dem Wind weit fortfliegen.

Doch ich stehe nur in einer engen, dunklen und auffällig dreckigen Gasse und beobachte in Gedanken versunken eine abgemagerte Katze, die im Dreck wohl auf der Suche nach etwas Essbarem ist. In meinem Rücken liegt das Winter, ein alter Kiosk meines Vaters. Die heruntergekommene Außenfassade wirkt alles andere als einladend. Und nur einige hundert Meter vom Broadway entfernt wirkt der Laden trostlos und unsichtbar. Mein Dad sagt immer, das Geschäft lebt nur von den Einnahmen der Stammkundschaft. Und da kann ich ihm nur zustimmen. Ein Tourist, der sich in diese Gegend verirrt hat, würde sich wohl kaum in dieses Gebäude trauen. Unsere Haupteinnahmequellen bestehen somit aus den vielzähligen, Sorgen verschluckenden Flüssigkeiten, die sich der ein oder andere selbst schon am frühen Morgen die Gurgel hinablaufen lässt, als auch die süchtig machenden Schächtelchen, denen selbst ich verfallen bin. Mit einem Seufzer lasse ich den glühenden Stummel durch meine Finger gleiten und auf den Boden plumpsen. Mit einem energischen Tritt verglüht auch das letzte Flimmern.

Schon so oft habe ich versucht, meinen Dad dazu zu überreden, diesen Laden dicht zu machen. Doch er will davon nichts wissen. Er hängt viel zu sehr an diesem Laden, was nur auf meine Mom zurückzuführen ist. Ich habe kaum noch Erinnerungen an sie, denn sie starb, als ich vier war. Mein Dad und sie haben damals, bevor ich überhaupt auf der Welt war, diesen Laden eröffnet. Es war ihr größter Traum. Aber damals sah diese Straße auch noch ganz anders aus. Auf alten Bildern ist sie kaum wieder zuerkennen. Früher war sie belebt von Menschenmassen und vielerlei Geschäften. Auf den alten Fotos sah diese Gasse wunderschön aus und in der Nacht wurde sie von vielen bunten Lichtern durchflutet. Doch davon ist heute nichts mehr zu erahnen. Die meisten Geschäfte haben dicht gemacht, und viele Gebäude hier stehen leer und verrotten nach und nach. Nur mein Dad kann den Laden nicht schließen und sich von einem längst verflogenen Traum trennen.

Wir selbst schlafen in einer kleinen Wohnung über dem Kiosk, die wir uns gerade so leisten können.

„Rio, ich brauch dich einmal", ertönt die laute, rasselnde Stimme meines Vaters mir. Langsam drehe ich mich um, mit einem letzten Blick auf die Straße. Dann verschwinde ich durch die kleine Tür und trete in den Laden. Wie immer muss ich mich mit meinen 1.90m bücken, um meinen Kopf vor einer Beule zu beschützen. Dabei läutet der helle Ton einer Ladenklingel, die immer beim Eintreten des Ladens ertönt. Schnell entdecke ich meinen Dad hinter dem Thresen. Ein kurzer umschweifender Blick bestätigt, dass der Laden leer ist. Keine Kundschaft. Aber schließlich ist es ja auch erst Dienstag Abend. Viele Kunden kommen am Wochenende, um sich für die bevorstehenden zwei Tage einzudecken. Aber an einem Dienstag Abend verirren sich höchstens hochgradig verzweifelte, von der Arbeit erschöpfte, Menschen hier her. „Was gibt's, Dad?", erkundige ich mich. „Es wurde gerade neue Ware geliefert. Kannst du die aktuellen Zeitschriften bitte einsortieren?" Mit einem gemurmelten „Klaro" gehe ich zu Dad, um den schweren Karton mit Zeitschriften vor ihm anzuheben und Richtung der dafür vorgesehenen Ständer zu bugsieren. Langsam sortiere ich die Zeitschriften nach Erscheinungsdatum und Thema, während ich die Melodie eines Liedes aus dem alten Radio über mir leise mitsumme. In Gedanken bin ich schon bei dem nächsten Tag, als mich das grelle Läuten der Ladenklingel in die Gegenwart zurückreist. An diesen Ton werde ich mich wohl nie gewöhnen. Kopfschüttelnd witme ich mich nun wieder den Zeitungen, während ich neben dem Karton hocke.

Ein lauter Knall lässt mich hochschrecken. Als wäre etwas sehr schweres auf dem Boden aufgeschlagen. Alamiert richte ich mich langsam auf und will gerade Dad nach Hilfe fragen, als sein Schrei die Sille zerreißt. „Bitte. Nein. Nicht heute. Ich habe ein Kind. Sagt ihm, dass es mir Leid tut. Sagt es ihm. Bitte, Herr Gott." Seine Stimme zitterte stark und strotze vor Angst. Am liebsten würde ich direkt hinter dem Ständer mit den Zeitschriften hervorpreschen, aber eine leise Stimme in mir rät mich zur Vernunft. Schließlich hat mein Dad mit mir sehr oft eine solche Situation eingeübt. Mein Verhalten. Meine Reaktion. Als wüsste er, dass es eines Tages genauso kommen würde. Wenn ich jetzt nicht in dieser schrecklichen Situation wäre, würde ich die Augen darüber rollen, wie ich es schon viele Jahre zuvor auch immer gemacht hatte. Mein Dad war einfach schon immer etwas übervorsichtig.

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