6. Kapitel Rio

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Seit Stunden renne ich ziellos durch verlassene Parkanlagen, dunkle Gassen und fremde Wege. Meine Muskeln verkrampfen sich schon und kalte Schweißflüsse rennen mir immer wieder den Körper hinab.

Aber ich kann nicht aufhören zu rennen. Denn was soll ich machen, wenn ich jetzt stoppe und stehen bleibe? Wo soll ich bitte hin? Zurück zum Krankenhaus kann ich nicht und will ich nicht.

Ich fühle mich verzweifelt und eine lähmende Hilflosigkeit wächst tief in mir an, wird immer größer und verschlingt alle anderen Gedanken und Gefühle. Nun biege ich in eine weitere Seitengasse ein und beschleunige nochmals mein Tempo mit allerletzter Kraft. Vielleicht kippe ich ja gleich um und wache dann nie wieder auf. Das wäre toll, dann wäre ich bei meinem Dad, schießt es mir durch den Kopf.

Die ersten Sonnenstrahlen an diesem kalten Morgen brechen durch eine dunkle Wolkenfront, die sich bedrohlich über der Stadt erhebt. Dunkle Wolken, so schwarz wie der Tod. Wolken, die den Blick auf den blauen Horizont versperren, die wie gefährliche Raubtiere alles hilflose Leben erbeuten und auffressen. Vernichten.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich mich in der alten Gasse, in dem auch unser Kiosk steht, befinde. Mein Unterbewusstsein muss ungewollt meine Füße an diesen traurigen Ort navigiert haben. Ich entschließe mich, zum Kiosk zu joggen.

Langsam drücke ich mit lautem Atem die rostige Klinke des Winters runter. Es ist nicht abgeschlossen. Dann betrete ich vorsichtig den Laden. Am liebsten würde ich diese bescheuerte Ladenklingel von der Tür reißen und wieder rausrennen. Meine Nerven sind stark strapaziert. Die Luft hier ist stickig.

Ein Blick in den staubigen Laden bestätigt mir, dass alles noch genauso aussieht, wie es zurückgelassen wurde. Ein alter Kunde hat meinen Dad wohl kurz nachdem ich gegangen war, auf dem Boden entdeckt und sofort den Krankenwagen verständigt. Das wurde mir so zumindest von der Polizei mitgeteilt.

Auf dem Boden liegen zerknüllte, blutige Tücher. Einige kleine Plastiktütchen, deren Ursprungsform auf alte Verpackungen von Mullbinden hinweisen, wurden zerstreut zurückgelassen.

Langsam bewege ich mich auf den Tresen zu. „Bitte, bitte nicht", bete ich innerlich. Doch der Himmel scheint es heute nicht gut mit mir zu meinen. Gar nicht gut. Die Blutlache erstreckt sich wie ein ausgekippter O-Saft Fleck über eine große Fläche am Boden. Wie konnte er so viel Blut verlieren? Bei einer solchen Verletzung wie er die hatte, war das doch nahezu unmöglich.

Wie ein Roboter, eine aufgezogene Puppe, umgehe ich den Tresen und hole aus dem Hinterraum einen großen Mülleimer, einen alten Wischmob und einen Eimer mit heißem Spülwasser.

Hast du schonmal versucht, getrocknetes Blut vom Boden aufzuwischen? Wenn nicht, dann kann ich dir nur sagen, es ist schwer. Du musst schrubben und kratzen. Und viel schwitzen. Und wenn du Pech hast, bleibt der Fleck, wie ein Krebsgeschwür im Endstadium, es bleibt, erinnert dich jeden Tag an sich und lässt dich schwächer werden, bis du nicht mehr weiter kannst. Bis du nicht mehr weiter willst, weil die Schmerzen zu groß werden und dich immer weiter zerstören.

Gefühlskalt reinige ich den Tatort. Und nicht nur das. Ich putzte das gesamte Winter, zerstöre jede noch so antike Spinnenwebe und jeden Staubkrumen. Merkmale aus längst vergangenen Zeiten. Ich putze so lange weiter, bis meine Hände wund werden und die Knöchel anfangen zu bluten. Ein letztes Mal schließe ich die kleine Tür ab.

Dann lege ich mich auf den kalten, muffigen Boden und schaue zur Decke. Ich kann keine Sterne sehen. Aber wie auch? Dennoch weiß ich, dass auch, wenn ich jetzt aus diesem Gebäude auf die Straße rennen würde, keine Sterne sehen könnte. Auch wenn sie da wären. Die dunkle Wolkenfront versperrt mir die Sicht. Tief in meinem Inneren bahnt sich die dunkle Vorahnung an, nie wieder Sterne sehen zu können.

Mein geschundener Körper legt langsam meinen Geist still und kommt zur Ruhe. Doch kurz bevor ich die Augen für die nächsten zehn Stunden schließe, stürmt ein letzter Gedanke durch meinen Kopf: Ich will Rache. Rache nehmen, an die Menschen, die mein Leben vor nicht einmal zwölf Stunden so brutal zerstört haben.

Remember the starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt