7. Kapitel Josy

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Ein unglaublich appetitlicher Duft benebelt meine Sinne und lässt mich aus meinem Jahrtausend-Schlaf erwachen. Ich liege immer noch im Bett, doch vor mir sitzt ein grinsender Five auf der Bettkante. „Auch mal wach. Dachte schon, du liegst im Koma.", witzelt er. Sanft boxe ich ihm in die Seite, was er mit einem kurzen, ironischen „Hey" quittiert.

Jetzt erhebt er sich und bewegt sich schwungvoll Richtung Ausgang, mit einem überbackenden Käse-Schinken Brötchen, Tomaten und Gewürz in der Hand. „Ok, dann werde ich mal Six oder Seven fragen, die haben schließlich immer Hunger". „Five, jetzt gib schon her, bitte!". Energisch richte ich mich auf und blicke ihn mit meinen treuesten Augen an. Käse-Schinken Brötchen ist meine Lieblingsmahlzeit. „Wenn das so ist, ...", lacht Five und dreht sich in Zeitlupe wieder zu mir um. Endlich. So schnell ich kann und es mir meine blauen Flecken erlauben fische ich das Brötchen aus seiner Hand und schiebe mir die Kante genüsslich in den Mund.

„Du hast ja vielleicht einen Hunger, Miss. Wo bleiben denn die Manieren?", witzelt Five. Ich kann kaum sprechen, weil mein Mund so voll ist. Aber das Brötchen ist auch einfach unschlagbar lecker. „Ich habe seit Tagen kaum was gegessen, Five. Ich verhungere noch eines Tages." Five runzelt besorgt seine Stirn. „Ja, das kannst du laut sagen. Bei deinem Energiegehalt wäre ich schon dreimal tot". Ich weiß, dass Five es nicht gerne hat, dass ich immer so wenig esse. Aber ich spare gerne oder teile mein Geld mit Fred. Fred muss ich auch unbedingt wieder besuchen. Ich habe ihn jetzt schon seit mindestens einer Woche nicht mehr gesehen.

Und ich hasse es, wenn mich Five so anguckt. Als wenn er mein Vater wäre. Dabei bin ich eine starke Frau, die sich gut selbst verteidigen und versorgen kann. Pah.

Er muss meinen missmutigen Blick erkannt haben, denn jetzt glättet sich seine Stirn, als wenn die vorherigen Sorgenfalten nie da gewesen wären.

„Sag mal, wie spät haben wir es eigentlich?" „Ich weiß nicht, Haut vor Knochen?", Five blickt auf sein Handgelenk, als würde da eine Uhr sein Gelenk umschmeicheln. „Boah", gebe ich nur von mir, während ich versuche, den Homebutton auf seinem Handy mit meinen fettigen und klebrigen Händen zu erreichen. 14:02.

Ich schnappe nach Luft. Schon so spät. Hektisch schiebe ich mir das letzte Stückchen Brötchen in den Mund und springe energisch vom Bett. So schnell ich kann, fasse ich meine Haare zu einem hohen Dutt zusammen und durchsuche gestresst den riesigen Wäschehaufen von Five nach einem schlichten, schwarzen T-Shirt. Den empörten Aufruf von ihm „Hey das ist Kunst. Zerstöre mein Werk doch nicht!" ignoriere ich dabei gekonnt. Dann sprinte ich aus dem Zimmer. In unserem improvisierten Bad putze ich mir die Zähne während meines Toilettenganges. Das spart Zeit. In meinem Zimmer angekommen tausche ich zuletzt Twos Jogginghose gegen eine alte schwarze Jeans aus und ziehe mir zügig eine dünne Sweatshirt-Jacke über die Schultern. Nachdem sich die dreckigen Sneakers an meine Füße schmiegen, greife ich nach meinem Handy und stopfe es in meine rechte, hintere Hosentasche. Sicher ist sicher. 14:14.

Nun renne ich wie von der Tarantel gestochen durch die Gänge des New Yorker Untergrundes. Wir New Yorker sind stolze Besitzer des größten U-Bahnnetzwerkes der Welt. Doch die Kehrseite der Medaille birgt unzählige Geisterstationen. Gleise, die stillgelegt wurden. Gleise, die vergessen wurden. Aber nicht von uns. Nicht von IHM.

Hier unten leben einige hilflose Obdachlose, einige gefährliche Gangs, aber besonders viele Ghosts. So nennen wir Numbers die ganzen Männer und Frauen von IHM. ER hat ein riesiges Netzwerk aus kriminellen Schwerverbrechern, verzweifelten Genies und armen Schuldnern geschaffen, die sich ihm unterwerfen. ER identifiziert sich als König der Unterwelt. Niemand traut sich an IHN ran. Und so herrscht ER über der Stadt. Über die Menschen in der Stadt. Und wird mit jedem Augenblick der vergeht reicher.

Ich weiß wirklich nicht viel über IHN. Im Alter von 14 Jahren nahm ER mich auf. Zu dem Zeitpunkt ging es mir verdammt dreckig und es kam mir vor, als wäre ER meine letzte Rettung. Vielleicht war er das auch. Vielleicht musste das alles so kommen. Trotzdem erwische ich mich selbst manchmal dabei, über Was wäre, wenn ... Phantasien zu grübeln.

„Junge, mein Name sagt doch schon alles. Six. Ich bin der Inbegriff von Sex. Ich schwöre. Gestern Nacht, das waren nicht eine oder zwei, das waren easy ..." „Ok, ok, ich glaub dir, Mann!" unterbricht nun Seven Six. Jetzt haben mich auch die beiden Trottel bemerkt. Aber bevor einer von ihnen zu einer patzigen Bemerkung ansetzen kann, winke ich ab. „Später." Stoße ich hervor und presche an ihnen vorbei. Vermutlich mehr als verwundert lasse ich sie hinter mir zurück, bevor ich das mächtige Prunkstück des Architekten Rafael Guastavino betrete. Es handelt sich dabei um einen atemberaubende und längst vergessene U-Bahnstation in der Nähe der Brooklyn Bridge. Eine menschenleere, riesige Halle erstreckt sich vor mir, dessen Schönheit aus vergangenen Zeiten kaum noch zu erahnen ist.

Rundungen dieses architektonisches Meisterwerkes lassen das Gebäude unter der Erde freundlich erscheinen. Unter einem gigantischen Bogen erhebt sich großzügig eine breite Treppe, die in einen einst prächtigen Saal führt.

Im Wechsel bedecken weiße und grüne Kacheln aus längst vergangenen Zeiten die gewölbte Decke im Untergrund von New York. Auf einem Schild steht «City Hall» (Rathaus). „Zehntausende fahren in der US-Metropole täglich an verlassenen Stationen vorbei. Nur wenige bemerken die düsteren Zeugen der Geschichte."

Ich hechte durch die Halle und stürme einem Hinterausgang hinauf. Die frische Luft tut unglaublich gut und wirkt beruhigend. Zum Glück ist es an diesem Tag nicht zu kalt und die Sonne erwärmt die Erde schon seit einigen Stunden. Jetzt bemerke ich auch meinen schnellen Atem und kleine Schweißperlen, die mir den Rücken runterkriechen. Das ist ja mal wieder typisch.

Flink fische ich mir mein letztes Erdbeerkaugummi aus der vorderen Hosentasche und stopfe es mir in den Mund.

Mit einem letzten Blick auf die Uhr mache ich mich auf den Weg. Zum Glück muss ich keine U-Bahn oder S-Bahn nehmen. Mein Ziel ist nur einige Minuten Fußweg von unserem Lager entfernt. Und doch werde ich etwas zu spät sein.

Remember the starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt