Es konnten Stunden, auch nur Minuten vergangen sein, als der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte. Nachdem ich tief Luft geholt hatte, versuchte ich mir den Weg zu merken. Doch selbst die kleinste Anstrengung verursachte höllische Kopfschmerzen und zwang mich dazu die Augen zu schließen. Völlig bewegungsunfähig lag ich auf den Sitzen und versuchte meinen rasenden Puls zu beruhigen. 'Wenn er anhält werde ich den Überraschungsmoment nutzen und ihn überwältigen', schoß es mir durch den Kopf, als ich die Bremsen leise quietschen hörte und sammelte meine verbliebene Kraft, als ich hörte wie die Autotür geöffnet und wieder zugeschlagen wurde. Ich rutschte soweit wie möglich an die Tür heran und zog meine Beine unter Schmerzen an. Als meine Tür geöffnet wurde und eine Hand nach meinen Beinen langte, versetzte ich dieser einen heftigen Tritt, worauf ein lautes Fluchen ertönte und beide Hände von Lester nach mir griffen und mich am Kragen packten. "Dreckiges Miststück!" Wütend zerrte er mich aus dem Wagen und ich fiel auf den staubigen Boden. Nur mühsam konnte ich mich aufsetzen, als ich mir einen Überblick verschaffte und erkannte, dass ich mich im Hinterhof desjenigen Hauses befand, in dem Damien, ich und all die anderen Kinder vor vielen Jahren die schlimmste Zeit unseres Lebens verbringen mussten. Plötzlich tauchte Lester wieder in meinem Blickfeld auf. Graue Strähnen durchzogen die blonden Haare, der stechende Blick aus den blauen Augen war noch immer derselbe wie vor Jahren. Verachtung, Spott, Arroganz, all dies schwang in dem Blick mit, mit dem er mich strafte. Einen halben Meter vor mir blieb er stehen, atmete tief durch und grinste mich an. "Wir hatten einen unschönen Start für unser Wiedersehen, findest du nicht auch? Wir sind erwachsene Leute, wir sollten uns auch so verhalten." Sein Blick wurde mild, fast schon liebevoll lächelte er mich an. Es war genau derselbe Blick, mit dem er immer aus der kleinen Kammer in den Kreis aus verängstigten Kindern zurückgekehrt war. "Wiederwärtiger Mistkerl", spuckte ich ihm entgegen. Ein leises Seufzen entfuhr Lester und er schüttelte den Kopf. "Du warst schon immer widerspenstig. Nichts hat sich geändert", sein Blick wanderte von meinen Füßen, über meinen Körper, bis er mir wieder grinsend in die Augen sah. "Vielleicht hat sich doch etwas geändert. Du bist noch schöner geworden. Schade, dass ich dich umbringen muss. Aber vielleicht haben wir noch etwas Zeit zusammen, bevor ich mir die Hände schmutzig machen muss." Lester trat näher an mich heran, kniete sich vor mich und nahm eine meiner Haarsträhnen zwischen seine Finger und studierte sie eingehend. Angewidert wich ich zurück, aber blitzschnell hatte er seine Hand in meinen Haaren vergraben und riss sie nach hinten. Tränen brannten in meinen Augen und ich konnte einen Aufschrei nicht verhindern. Ich spürte Lesters Atem an meinem Hals, er näherte sich meinem Ohr, dann hörte ich seine raue Stimme: "Es ist wirklich eine Schande das deine Kollegen nur noch deine Leiche finden werden. Ich hatte den Eindruck sie sorgen sich doch sehr um dich, vor allem der Nerd. Ein komischer Mensch. Redet die ganze Zeit unverständlichen Quatsch, irgendwelchen Studien, Statistiken die niemanden interessieren. Die Zeit auf dem Polizeirevier war unterhaltsam, niemand kam auch nur auf den Gedanken das ich neben ihnen stehe und alles höre. Nicht einmal du hast mich gesehen. Ich war wirklich schrecklich enttäuscht, wirklich schrecklich enttäuscht." Wieder schüttelte er den Kopf, seinen mitleidigen Blick auf mein Gesicht gerichtet. Er packte mich am Kragen und schleifte mich hinter sich her auf das Gebäude zu. Plötzlich ließ er mich zu Boden fallen und öffnete den Kellerzugang zu dem Haus. "Aufstehen", forderte er mich auf und als ich zu langsam reagierte versetzte er mir einen Tritt. "Verdammt nochmal, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!" Schnaufend erhob ich mich wieder und begann damit vor ihm die Treppe hinunter zu steigen. Mit jedem Schritt wuchs die Beklommenheit, Panik und Angst ließen meine Beine schwach werden und mich am ganzen Körper zittern. Innerlich rief ich mich dazu auf mich zusammenzureißen. Ich durfte Lester nicht zeigen, dass er mich in der Hand hatte. Seine Hände lagen schwer auf meinen Schultern, schoben mich unaufhaltsam vorwärts in den dunklen, feuchten Keller. Lester fesselte mich an eines der Heizungsrohre, die nach oben in das Haus führten. Das einzige Licht das den Raum erhellte, war eine nackte Glühbirne die von der Decke baumelte und im Minutentakt bedrohlich flackerte. Und während ich dort saß, die Handgelenke um das kalte Metall gefesselt, die Fußknöchel zusammengebunden, lief Lester vor mir auf und ab, murmelte unverständlich vor sich hin. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, sein Blick schnellte zu mir, dann fiel er auf seine Armbanduhr. "Ich dachte wirklich deine Leute wären schneller. Anscheinend wird es wohl nicht zu einem packenden Showdown um dein Leben kommen." Er zuckte mit den Schulter und wandte sich zu einer weiteren Treppe zu, die wahrscheinlich hinauf in das Haus führte. "Ich bin sofort wieder da, lauf nicht weg. Wir werden gleich eine Menge Spaß zusammen haben." Ich hörte die Tür hinter ihm zuschlagen und machte mich daran, einen Fluchtweg zu suchen. Ich wusste, dass er den Kellerzugang hinter sich wieder verschlossen hatte, also war mein einziger Weg, der, der hinauf in die Wohnung führte. Ich riss und zerrte an den Fesseln an meinen Handgelenken, den Schmerz ignorierend, der mit jedem Zug schlimmer wurde. Mit meinen Zähnen versuchte ich den mehrfachen Knoten so schnell wie möglich zu lösen und tatsächlich gelang es mir, das Seil etwas zu lockern und den Knoten teilweise zu öffnen. Erleichtert schnaufte ich und versuchte mich entgültig loszumachen, doch da hörte ich die Tür und positionierte mich so, dass Lester nicht sofort sehen würde, dass ich mich an meinen Fesseln zu schaffen gemacht hatte. Mit bedächtigen Schritten stieg er wieder zu mir in den kahlen Raum, ein Messer in der Hand haltend. Einen halben Meter vor mir blieb er stehen und fuhr bedächtig über die Schneide des Messers. Verträumt wanderte es von der einen zu der anderen Hand. "Weißt du, Lillyanne, ich wollte es nie zugeben, aber mit den Anderen hatte ich nie soviel Spaß wie mit dir. Nicht heute und auch nicht in den Jahren zuvor. Es hat mich richtig wild gemacht, wenn du dich gewehrt hast. Ich konnte alles in deinen Augen sehen. Angst, Abscheu, Ekel, Wut, Zorn, Hoffnung das es schnell vorbei ist, genau wie jetzt." Er beugte sich zu mir herunter, ging in die Hocke und ließ die Messerspitze über mein Gesicht wandern. Schneller als das mein Verstand hätte reagieren können, hatte ich mich nach vorne gebeugt und spuckte ihm ins Gesicht. Die Ohrfeige kam sofort und schmerzhaft. Wieder griff er in meine Haare und zwang meinen Kopf in den Nacken. "Wie ich schon sagte, du hast nichts verlernt. Aber langsam gehst du mir auf den Geist. Beenden wir das hier ein für allemal. Jetzt lasse ich dich bezahlen für all dass was ihr, du und deine Freunde, mir angetan haben. Für all die Jahre, die ich im Gefängniss sitzen musste."
Er stach präziese zu. Für einen Moment kam es mir so vor, als hätte er nicht getroffen, als hätte er mich verfehlt, doch dann setzte der Schmerz ein, hart und erbarmungslos. Die dicken Wände schluckten meinen Schrei, als Lester das Messer langsam aus meiner rechten Schulter zog. Ich versuchte noch immer Lester nicht nachzugeben, aber die Tatsache, dass ich die Tränen nicht länger zurückhalten konnte und der Schmerz schier unerträglich war, machten es zu einem zum scheitern verurteilten Unterfangen. Als Lester bemerkte, dass ich anfing wegzudriften, schlug er wieder zu. "Nana, wer wird denn jetzt ein Nickerchen machen, es geht doch gerade richtig los!" Laut lachend versenkte er das Messer in meinem Bauch und ich kippte vorn über auf seine Schulter. Als er die Klinge wieder heraus zog, flackerte mein Blickfeld und schließlich fielen meine Augen zu. Mühsam holte ich immer wieder Luft, aber ich hatte das Gefühl, das ich immer weniger Sauerstoff aufnahm und mir bald die Luft wegbleiben würde. Lester war inzwischen aufgestanden, hatte einen Stuhl in die Mitte des Raumes gerückt und das Messer fallen lassen. Ich hörte seine Schritte, die wieder auf mich zu kamen, spürte seine Hand an meiner Wange, dann an meinen Armen. Ich schaffte es meine Augen zu öffnen, als ich spürte wie meine Fesseln gelöst wurden und er mich auf den Stuhl schleppte. Mein Kopf hing kraftlos nach hinten, meine Arme baumelten an meiner Seite nach unten. Noch einmal begab Lester sich nach oben, wahrscheinlich um seine Waffe zu holen und mich endgültig zu töten. Viel brauchte es jedenfalls nicht mehr. Als ich jedoch begriff, dass ich meine Arme frei bewegen konnte, dass Messer in zwei Metern Entfernung lag und Lester nun nicht mehr von Widerstand meinerseits rechnete, sah ich eine letzte kleine Chance mich zu retten. Mühsam kämpfte ich mich hoch, fiel vom Stuhl auf den Boden und blieb stöhnen liegen. Ich würde es nicht schaffen. Ich war zu schwach. Wütend riss ich meine Augen auf, ich konnte jetzt nicht einfach aufgeben! Ich robbte auf das Messer zu, hinterließ eine breite Blutspur auf meinem Weg. Als ich noch einen knappen Meter von der Klinge entfernt war, hörte ich Lester zurückkehren. Noch einmal zog ich mich nach vorne, versuchte nach dem Messer zu greifen und konnte das Metall unter meinen Fingerspitzen spüren. Ich hörte wie Lester lachte, nur ein mühdes Lächeln für meinen Fluchtversuch übrig hatte. "Widerspenstiges Gör", murmelte er und kam weiter auf mich zu. Dort lag ich, auf dem Bauch, dass Messer unter meinem Körper verborgen, mit geschlossenen Augen. Auf den richtigen Moment wartend. Tief Luft holend. Ich spürte seine Hände auf mir und im nächsten Moment hatte ich mich kreischend auf den Rücken gerollt und so fest zugestochen, wie es mir noch erlaubt war. Lesters Augen, vor einer Sekunde noch voller Spott, waren nun fassungslos auf das blutige Messer gerichtet, welches ich wieder aus seinem Brustkorb gezogen hatte und nun neben mir lag. Er richtete sich wieder auf, starrte ungläuig auf sein Hemd das sich mit dem Blut aus seiner Wunde voll sog. Sah mich an, taumelte zurück und fiel schließlich gegen den Stuhl der für mich, sein letztes Opfer bereit gestanden hatte. Ich hatte die Augen geschlossen, lauschte auf seinen röchelnden, immer leiser werdenden Atem. Auch meine Atemzüge wurden unregelmäßiger und irgendwann hörte ich nicht mehr Lesters Atem, sondern Schritte und gedämpften Stimmen, die jedoch irgendwann einem Nebel von Erschöpfung und Erinnerungen wichen, während ich begann zu träumen.
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Fateful Days
FanfictionLillyanne Beckett ist seit sie denken kann nicht allein. Es ist eine Stimme, eine Stimme in ihrem Kopf. Lillyanne, oder kurz Lil, leidet seit jenem tragischen Unglück der Eltern an selbstverletzendem Verhalten. Sie hat das Gefühl jeden Tag zu sterbe...