Zu Händen von Cecilia Isabel Lancaster
Die golden geprägte Schrift auf dem schweren Papier schien im letzten Licht der Abendsonne zu leuchten.
Für einen Moment verharrte der Mann auf der Veranda, lehnte sich gegen die hoch aufragenden Säulen, um seinen kühlen, ernsten Blick über den Garten schweifen zu lassen, der sich hinter dem imposanten Anwesen erstreckte.
Das Herrenhaus selbst schien in seiner Bauweise eine abenteuerliche, überladene Mischung aus Rokoko und Antebellum-Stil darzustellen, deren überflüssigen Details und Ornamenten er noch nie zugesprochen hatte. Doch der Garten, zumindest der Teil, den man von den großen Glasfenstern seines Büros aus sehen konnte, verkörperte reine, makellose Ordnung und kultivierte Schönheit.
Weiter in Richtung der Mauer, die sein Grundstück begrenzte, änderte sich das Bild, wich schlichte Ordnung aufwändigen Spielereien wie Heckenlabyrinthen, eigens angelegten Bächen oder Blumen und Kräutergärten jeglicher Couleur, einige von ihnen ausgestattet mit kleinen Häuschen, als hätte man ein Bauerndorf nachbilden wollen. Das jedoch, was ihm vor Augen lag, war nichts weiter, als die große, makellose Rasenfläche, umgeben von ordentlich angelegten Beeten, in denen selbst die Blumen in Reih und Glied zu stehen schienen, umgeben von im sanften Frühsommerwind rauschenden Bäumen, die selbst den angespanntesten Mann in seinem Arbeitszimmer zu beruhigen vermochten.
„Bellissima, Tom!"„Mr. Lancaster!", knurrte der Mann, die Zähne zusammengebissen, als fürchtete er einen Angriff, während Vittorio Acquanera, der korpulente italienische Botschafter, breit lächelnd neben ihm stand und Zigarrenrauch in die Abendluft blies.
Thomas Lancaster verabscheute es seit jeher, wenn man seinen Namen abkürzte. Tatsächlich konnte er sich nicht erinnern, dass jemals ein Mann seiner Familie damit einverstanden gewesen war, dass sein Name gekürzt, verstümmelt, verniedlicht wurde.
Es schien, als habe jeder älteste Sohn seiner Familie neben diesem Vornamen, den kühlen eisblauen Augen, der gebieterischen Stimme und der angeborenen Begabung zu führen auch diese Abneigung geerbt.„Eine erblühende Rose!", erklang die Stimme seines Gastes noch einmal, während Thomas spürte, wie er unwillkürlich die Zähne etwas fester zusammenpresste. Würde er in diesem Moment in den Spiegel sehen, würde ihm ein Mann entgegenstarren mit ehemals blondem, nun angegrautem Haar, das sich langsam lichtete, obwohl er kaum die 50 überschritten hatte, mit Augen, deren Blick allein genügte, um auch den Selbstsichersten einzuschüchtern.
Die Worte des Italieners, das wusste er genau, hatten keineswegs dem Garten gegolten, nicht den Rosen, die eine Frau in den ersten Jahren ihrer Ehe angepflanzt hatte, nicht den ordentlich gepflegten Beeten und Sträuchern.„Cecilia!"
Er musste nicht laut rufen. Das junge Mädchen, das eben noch im Gras gesessen hatte, ins Spiel mit einem der kleinen, vor wenigen Tagen geborenen Löwen vertieft, deren Mutter träge mit einem ihrer Jungen auf dem Rasen döste, hob augenblicklich den Kopf. Selbst auf die Entfernung konnte Thomas Lancaster erkennen, wie ein Lächeln das Gesicht seiner Tochter erhellte, als sie ihn bemerkte.
„Eine Schönheit in der Tat!", kommentierte Botschafter Acquanera noch einmal, erinnerte seinen Gastgeber daran, wie viel lieber er dieses Treffen verschoben hätte.
Hätte er gewusst, dass es ihm zukommen würde seiner Tochter diesen Brief zu übergeben, hätte er sich geradeheraus geweigert die italienische Delegation an diesem Tag auch nur zu empfangen.
Andererseits war es auch nicht geplant gewesen, dass Cecilia bei ihrer Rückkunft von der Schule am Mittag Sarah Stanley, Elizabeth Arton und die Perenell-Zwillinge im Schlepptau haben würde, die alle gekommen waren, um die Löwenbabys zu sehen.
Natürlich hatte es bis in die frühen Abendstunden gedauert, bis die Löwenbabys ausgiebig bewundert und gestreichelt waren, sodass das letzte der Mädchen sie vor kaum einer halben Stunde verlassen hatte, genau zu der Zeit, als Botschafter Acquanera sich die zweite Zigarre angesteckt hatte.
Somit war es wohl der Vorsehung zu Lasten zu legen, dass er seiner Tochter den Brief erst so spät übergeben konnte, denn das Schreiben und sein Inhalt war nichts, woran ein hübsches, junges Mädchen andere am Abend vor ihrem 15. Geburtstag teilhaben ließ.
15 Jahre!
Er blickte erneut auf seine Tochter, die sich langsam aus dem Gras erhob, das weiße Löwenbaby vorsichtig zurück auf den Boden setzte, während der breite Sonnenhut, den man ihr am Mittag vergeblich hatte aufzwingen wollen, unbeachtet im Gras liegen blieb. Ohne diese Kopfbedeckung schimmerten ihre langen Locken in der Abendsonne wie gesponnenes Gold, ein Anblick, der ihm einen leichten Stich versetzte, ihn daran denken ließ, dass es nicht er war, von dem sie dieses Haar geerbt hatte.
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Utopia - Per Scientia ad Astra
AbenteuerIm Jahr 2020 hört die Erde, so wie wir sie kennen, auf zu existieren. An ihre Stelle tritt Utopia, eine perfekte Gesellschaft voller Eintracht, Wohlstand, Gesundheit und Frieden, die sich hinter hohen Mauern gegen das Unaussprechliche schützt, das v...