Kapitel 4

98 20 44
                                    


James atmete aus, versuchte die Küsse noch einen Augenblick länger an seinem Hals zu spüren, vertraute Hände, die langsam über seine Brust nach unten glitten.
„Rob!", stöhnte er, die Augen noch immer geschlossen, während er meinte das Aufblitzen von schmalen, braunen Augen zu sehen, dünne Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen, ein abgebrochenes Stückchen Zahn, das...

James fuhr aus dem Bett, blickte sich erschrocken um.
Er hatte Dunkelheit erwartet.
Stattdessen fiel vom Flur ein heller Schimmer in sein Zimmer und in dem grellen Licht, das seine Augen schmerzen ließ, stand etwas.
Jemand.
Doch es war nicht Rob.
Kein athletischer Körper, keine sanften Hände, kein...
„Jamie?"

Mit einem Seufzen richtete er sich auf und streckte die Arme aus, doch die Gestalt regte sich nicht.
Er seufzte.
Wie hatte er nur glauben können, dass Cece sein Versprechen vergessen würde, nur weil sie den ganzen Abend bejubelt worden war und mit Richard Cameron getanzt hatte?
„Es ist spät, Cece!", stöhnte er, doch Cecilia kam nur auf ihn zu, den Blick ihrer grünen Augen fest in seine gerichtet.
Sie hatte das Make-Up abgewischt und sich umgezogen.
Anstatt des ausladenden roten Kleides, das mit Polstern ihre zarte Figur kaschierte, trug sie nun eine dunkelrote Tunika, die ihr bis auf den Oberschenkel fiel, über die sie eine dunkelgraue Jacke gezogen hatte. Ihre Beine steckten in grau-grünen Hosen und endeten in soliden Schuhen, bei denen James sich ernstlich fragte, woher seine süße, kleine Schwester bitteschön Kampfstiefel hatte, die an ihr ohnehin viel zu wuchtig aussahen.
Sie sah nicht mehr aus, wie seine wunderschöne, sanfte Schwester, an der am Abend alle Augen geklebt hatten, sondern vielmehr wie Cece vom Minenräumkommando und das war vollkommen unmöglich!
Doch da stand sie, zu ihrer vollen Größe aufgerichtet, auch wenn er sie um einen Kopf überragte, die langen, schimmernden Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr im Rücken baumelte.
Samt Spürhund.
Zumindest lag ihre Löwin auf seinem Teppich und blickte ihn an, als wollte sie ihm mitteilen, dass er am besten alles tat, was man ihm befahl, wenn er nicht ihre Krallen spüren wollte.

„Ich bin sicher, du erinnerst dich daran, was du mir versprochen hast, Jamie?"
Cecilia warf ihm einen scharfen Blick zu, während sie sich auf der dunkelrot bezogenen Decke niederließ, unter der er gerade noch friedlich geschlummert hatte.
Versunken in seine Träume.
Unbelästigt von den abenteuerlustigen kleinen Schwestern dieser Welt.
„Cece, ich habe dir gesagt, dass es zu gefährlich ist!", murmelte er genervt, mehr in sein Kissen, als zu ihr und sehnte sich nach den Tagen, an denen Cecilia diese Antwort akzeptiert und sich mit einem Seufzen in seine Arme hatte sinken lassen. Stattdessen saß sie weiterhin auf dem Bett, ungerührt von seinen Worten.
„Und du hast doch dein Abenteuer erlebt, oder?", versuchte er es noch einmal, und lachte als Cecilia mit einem Kissen nach ihm schlug.
„Ich habe mich an Papier geschnitten, Jamie! Wenn das für dich ein Abenteuer ist..."
„Und du hast mit Richard Cameron getanzt!"

James war endlich vollends aufgewacht und spürte, wie sein Denken langsam zu arbeiten begann. Auch wenn er wohl selbst im Wachkoma auf Richard Cameron gekommen wäre. Die zarte Röte, die augenblicklich auf den Wangen seiner Schwester erschien, war Beweis genug dafür, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Den ganzen Abend hatte er nur Augen für meine hübsche Schwester!", grinste James vielsagend, während seine Finger sanft durch Cecilias Haare strichen, die mit jedem Wort verlegener wurde.
„Den ganzen Abend hat er mit ihr getanzt und hätten seine Eltern ihn nicht gedrängt nach Hause zu gehen, dann wäre er noch immer da und würde sie aus der Ferne anschmachten und unter ihrem Schlafzimmerfenster Gitarre..."
„Er spielt gar nicht Gitarre!", unterbrach Cecilia ihn mit fester Stimme, doch selbst im dämmrigen Licht seines nächtlichen Schlafzimmers konnte James sehen wie rot ihre Wangen glühten.
„Und überhaupt hat das gar nichts zu bedeuten! Wir sind nur gute Freunde und wollten tanzen!"
„Das sah aber ganz anders aus."
„Immerhin hat er mich nicht halb sabbernd angeschmachtet, wie Rob dich", erwiderte Cecilia mit spitzer Stimme, beinahe beiläufig, eine Hand gesenkt, um Tija, ihre weiße Löwin, hinter den Ohren zu kraulen.
„Weiß Vater mit wem du den halben Abend auf deinem Zimmer verbracht hast?"
„Cecilia!", setzte James an, doch der harte, berechnende Blick in den Augen seiner kleinen Schwester unterbrach ihn.
„Nimmst du mich mit über die Mauer?"

Die Worte waren hart, ausgesprochen mit einer Stimme, die deutlich machte, dass es nichts zu verhandeln gab.
Sie wusste genau, wie viel ihm daran lag, dass sein Vater nichts von dieser... Sache erfuhr.
Nicht, dass es verboten wäre! Niemanden in Utopia kümmerte es und das Konzil von Jerusalem, das im Jahr 2027 die Weltreligionen zu einer einzigen geeint hatte, hatte den Katalog der moralischen Untaten von allem gereinigt, dessen Verbot keinen objektiven Sinn erfüllte.
Dennoch wäre es seinem Vater wohl lieber, dass er mit Cecilia schlief, als dass er es mit Rob tat.
‚Die Mauer ist zu gefährlich!', dachte er, den Blick auf seine kleine Schwester gerichtet, die voll und ganz mit ihrem Löwen beschäftigt schien, würde sie ihm nicht ab und an einen kurzen, fordernden Blick zuwerfen.
Die Mauer war, so sehr Cecilia das egal zu sein schien, nicht umsonst gebaut worden.
Seit ihrer frühesten Kindheit wurde ihnen erklärt, warum man sie errichtet hatte.

Utopia - Per Scientia ad AstraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt