Kapitel 2

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„Bedenkt man die Niedertracht der Rebellen ist es nicht verwunderlich, dass ihnen ein Sieg verwehrt blieb." James Lancaster hob für einen Moment die Augen. Er hatte gedacht Geräusche vom Flur zu hören, doch wer auch immer sie verursachte schien so schnell verschwunden zu sein, wie er erschienen war. Der Raum um ihn herum lag in den Schatten nächtlicher Dunkelheit, in der man selbst die Konturen der einzelnen Möbel nur mit Mühe erkennen konnte.
Einzig die Lampe, die er an den Rücken seines Buches geklemmt hatte, spendete ein wenig Licht.
„Weder waren sie ausreichend bewaffnet, noch gelang es ihnen die seit 200 Jahren bestehenden Schutzmauern zu erklimmen, die gegen die Zerstörung in Folge des Marisinavirus errichtet wurden. Unbeantwortet bleibt indes die Frage nach der Motivation..."
Ein deutliches Knacken auf dem Flur ließ ihn das Buch endgültig zur Seite legen und sich mit einem breiten Lächeln der Tür zuwenden.
„Ich weiß, dass du da bist, Cece!", rief er, so laut er es sich in der nächtliche Stille des Hauses traute, kurz bevor die kleine, zierliche Gestalt durchs Zimmer zu schweben schien, auf sein breites Himmelbett sprang und ihren Kopf gegen seine Brust drückte.

„Solltest du nicht in deinem eigenen Bett sein?", fragte er mit gespielt vorwurfsvoller Stimme, die ihm, obwohl es ein Scherz gewesen war, einen leichten Stich ins Herz versetzte. Cecilias große, grüne Augen blickten ihn schuldbewusst an, doch sie blieb stumm, schmiegte sich nur etwas enger an seine Brust.
Selbst sie schien zu begreifen, dass sich etwas verändern musste.
Vor ein paar Jahren hätte sie ihm noch von Albträumen erzählt oder von Monstern unter ihrem Bett, vor denen er sie beschützen musste, doch jetzt war sie beinahe eine Frau und als solche schwieg sie und blickte ihn einfach nur mit einem sanft flehenden Schimmern in den Augen an.
„Du weißt, dass das ein Ende haben muss, Cece!", erklärte James ihr ernst, versuchte einmal in seinem Leben streng mit seiner kleinen Schwester zu sein. Doch egal was sein Vater oder seine Tante ihm eingeschärft hatten – er konnte es nicht.

Ihn und Cecilia hatte schon immer eine merkwürdige Anziehung verbunden, die in dem Moment begonnen hatte, als seine Nanny ihn hochgehoben hatte, damit er in den seltsam leuchtenden und piepsenden Glaskasten sehen konnte.
Auf das winzige bisschen Baby, das beinahe regungslos und ungesund blass darunter lag.
Er habe damals nicht aus Angst vor den Rebellen geweint, sagten alle, nicht aus Trauer über den Tod seiner Mutter, sondern nur, weil er sein Schwesterchen nicht hatte halten dürfen.
Was auch immer geschehen war, irgendetwas musste es mit ihm angestellt haben, denn all die Jahre ihres Lebens hatte er es sich zur Aufgabe gemacht seine kleine Schwester zu beschützen.
Natürlich, die Sitten ihrer Heimat verlangten es.
Ehefrauen, Schwestern, Töchter, all das waren kostbare Wesen, zarte, unschuldige Geschöpfe, die beschützt, geliebt und verwöhnt werden mussten. Denen man seine Ehrerbietung zollte für das Privileg Leben hervorbringen zu können, das der Herr ihnen in seiner unendlichen Weisheit zugestanden hatte.
Es war nichts Unübliches, dass Brüder und Väter das Wohlergehen ihrer Mädchen im Blick hatten, doch er war für Cecilia immer schon mehr gewesen.
Ein Schatten.
Ein Beschützer.
Ein Wächter, der darauf achtete, dass niemand ihr wehtat, niemand sie auch nur mit einem Blick musterte, der unangemessen für ein kleines Mädchen war.
Selbst als sie älter wurde, ihre Brust und ihre Hüften sich rundeten und aus dem drolligen Kind eine anbetungswürdige Schönheit mit vor Lebensfreude glühenden Augen wurde.

Diese Veränderung, gepaart mit dem Umstand, wie nahe sie sich seit jeher gestanden hatten, war es wohl gewesen, die seinen Vater dazu gebracht hatte ihn vor wenigen Wochen in sein Büro zu zitieren, ihm mit seiner üblichen, trockenen Stimme zu erklären, dass es langsam an der Zeit sei, dass er Cecilia nicht mehr erlaubte in seinem Bett zu schlafen.
„Unangemessene Assoziationen!", wiederholte James die Worte seines Vaters mit einem leisen Knurren.

Was denn auch sonst?
Niemals würde Thomas Lancaster, geliebter Vorsteher ihrer Utopia-Siedlung, pflichtbewusst, diszipliniert, angemessen, etwas aussprechen, das auch nur im Entferntesten mit Sex zu tun hatte.
„Ihm wäre es wohl lieber, sie würde für immer sein kleines Mädchen bleiben!", ging es ihm durch den Kopf.
Im Augenwinkel konnte er erkennen, dass Cecilia es sich neben ihm auf dem Bett bequem gemacht hatte, die zwei obersten Knöpfe ihres Nachthemds wie gewöhnlich nicht geschlossen.
Ohne Zweifel war sie eine junge Frau.
Längst nicht mehr das schniefende Kind, das ihr Vater vor fast fünf Jahren aus seinem Bett verbannt hatte, weil es nicht angemessen war für ein Mädchen ihres Alters das Bett ihres Vaters zu teilen.
Auch wenn er darauf gewettet hätte, dass die beiden es gleichermaßen bedauert hatten.
So wie er es bedauerte, dass er sie in dieser Nacht zum letzten Mal neben sich haben würde, zumal die Sorgen seines Vater vollkommen absurd waren.

Er hatte an diesem vergangenen Abend mit dem Gedanken gespielt, seinem Vater genau das ins Gesicht zu sagen. Selbst wenn Cecilia in den verführerischsten Dessous in sein Bett käme, würde er niemals mehr für sie empfinden, als für jede andere Frau.
Er schätzte sie, er respektierte sie.
Er würde sich hüten ihr jemals Schmerzen oder Angst zu bereiten und er würde sie gegen alles verteidigen, was sie bedrohte, so wie er es an seinem 15. Geburtstag feierlich geschworen hatte.
Doch seine Gefühle gingen nicht über brüderliche Liebe hinaus.
Zumindest, was Frauen anging.

„Was liest du da? Darf ich es sehen?"
„Die Geschichte des Glorreichen 25. Mai!", erklärte er mit gedehnter Stimme, darauf hoffend das Thema möglichst langweilig für seine Schwester klingen zu lassen. Doch spätestens als Cecilia über ihn hinweg nach dem Buch grapschte, wusste er, dass er damit keinen Erfolg gehabt hatte.
„Es ist spät, Cece!", beschwerte er sich schwach, doch seine Schwester hatte das Buch bereits aufgeschlagen und er ahnte, dass ihm eine lange Nacht voller Erklärungen und Theorien bevorstand.
Was Politik und die Geschichte ihrer Heimat anging zeigte Cecilia das Interesse, das sein Vater bei ihm so schmerzlich vermisste.
Wäre er nicht zwei Jahre älter und wesentlich größer und kräftiger als seine Schwester, sie hätten Zwillinge sein können, zumindest was das Aussehen anging. Doch der Scharfsinn ihres Vaters, den sein älterer Bruder und seine Schwester teilten, war an ihm vorübergegangen, um Raum für das mitfühlende Wesen seiner Mutter zu lassen, das ihm seit zwei Jahren immer mehr zur Last wurde.

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