Kapitel 6

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Langsam glitt Cecilias Hand über das Kissen, auf dem ihr Kopf lag.
Es war hart.
Härter, als sie es gewohnt war.
Doch auch ohne die noch immer bleischweren Lider zu öffnen, ahnte sie woran das liegen musste.
„Geh aus meinem Bett, Tija", stöhnte sie leise, bereit den Kopf zu heben und ihn wieder auf das Kissen fallen zu lassen, während ihre Löwin, die eigentlich nichts im Bett verloren hatte, auf den Teppich sprang.
Doch die weiche Fläche unter ihrer Wange bewegte sich kein bisschen.
„Tija!", knurrte Cecilia, presste die Augen zusammen in der Hoffnung noch ein wenig Schlaf zu finden. Selbst mit geschlossenen Augen wusste sie genau, dass es noch nicht Morgen sein konnte, zumindest noch nicht so spät, als dass jemand vor der Tür stand, um ihr ihr Frühstück zu bringen.
„Und eine zweite Decke", ging es ihr durch den Kopf, auch wenn ihre Gedanken langsamer schienen, schwerfälliger.
Sie brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass sie nicht mehr in ihrem Zimmer, in ihrem Bett lag, sondern in dem, das einmal ihrer Mutter gehört hatte, dass sie nun eine Frau war und dass...
Sie stockte, als ihre Hand über das Laken glitt, das sich fremd unter ihren Fingern anfühlte. Die Laken, die sie gewohnt war, waren weich und glatt. Dieses hier war uneben, seltsam hart und vor allem war es nass.
„Nass?"

Cecilia stöhnte auf, als sie sich durch das feuchte Gras zur Seite rollte. Um sie herum ertönte ein lautes Summen,  entferntes Zwitschern von Vögeln, gedämpft von dem stechenden Schmerz in ihrem Kopf, kaum dass sie ihn gehoben hatte.
Doch da war noch etwas anderes.
Ein seltsamer Geruch, schwer und süßlich, doch zugleich so scharf, dass Cecilia sich verzweifelt wünschte irgendetwas zu haben, das sie sich vor die Nase halten konnte.
Wo war sie?
In einem Wald, das wusste sie, doch so sehr sie versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war; alles in ihrem Kopf war eine verschwommene Masse aus Schreien, lautem Knallen und dem verzweifelten Wunsch zu fliehen.
Sie konnte sich daran erinnern, dass sie gerannt war, immer weiter in den Wald hinein, geflohen war vor dem Unaussprechlichen, das auf sie gelauert hatte.
Doch nicht viel mehr.

Vorsichtig richtete sie sich auf, ließ den Blick durch den Wald um sie herum schweifen, die lichten Bäume, die sich in weniger als 50 Metern Entfernung teilten.
Von dort wehte ihr der beißende Geruch entgegen, den sie noch immer nicht zuzuordnen vermochte, doch auch ohne ihn wäre es schon gefährlich genug.
Häuser bedeuteten Menschen.
Fremde Menschen.
Vielleicht die Menschen vor denen sie noch vor ein paar Stunden Hals über Kopf geflohen war, vor denen sie noch immer mehr Angst hatte als jemals zuvor vor irgendetwas und deren Gründe sie nicht verstand.
Warum hatten sie sie angegriffen?
Was hatte sie ihnen getan?
Cecilia wimmerte laut auf, als sie versuchte einen Schritt zu machen, spürte, wie ihr Fuß dagegen protestierte. Sie musste sich bei dem Sturz den Hang hinab verletzt haben.
'Ich hätte tot sein können!' ging es ihr durch den Kopf, als sie sich umdrehte, den Blick nach oben richtete, auf einen steilen Hang, zu steil, als dass sie ihn, selbst ohne die Verletzung, jemals hinaufklettern könnte.
Ein Blick um sie herum ließ sie hohe metallene Zäune in einiger Entfernung erkennen, verrostet und scharfkantig. Nichts würde sie dazu bringen über diese Zäune zu steigen, komme was da wolle! Doch wenn sie nicht zurück konnte und auch nicht zur Seite und ihr Kopf zu sehr schmerzte,  als dass sie auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte...
Mit einem tiefen Seufzen biss Cecilia die Zähne zusammen und machte sich, bemüht ihren linken Fuß nicht zu belasten, auf den Weg in Richtung des dämmrigen Lichtes, das ihr von den Häusern her entgegenstrahlte.

Dunkle Bauten erhoben sich um sie herum, kaum dass sie die letzte Reihe der Bäume hinter sich ließ. Die Sonne war noch immer nicht aufgegangen, doch hoch aufragende Laternen warfen ein trübes Licht über die Szenerie.
Sie waren das einzige, was Cecilia an zu Hause denken ließ, inmitten der kleinen, grob gebauten, aschig schwarzen Häuser.
Mit jedem Schritt auf der Straße, die aus nichts weiter als festgetretener Erde zu bestehen schien, fühlte sie sich betrogener.
Wie oft hatten ihr Vater und Bruder von den Gefahren jenseits der Mauer geredet?
Wie oft hatte sie mit ihren Freundinnen über die Schrecken spekuliert, die dort lauern mochten?
Nur, damit sich all das auflösen konnte in Reihen jämmerlicher Katen, gedeckt mit Stroh oder grob gehauenen Holzschindeln, von denen viele zerbrochen und halb verrottet im Unkraut lagen, das zwischen den Häusern die Höhe schoss, sich über die halb eingefallenen Ruinen rankte, als wollte es sie ersticken.
Die wenigsten von ihnen sahen aus, als hätten sie ein geschlossenes Dach und insgesamt war alles so jämmerlich und heruntergekommen, dass Cecilia kaum glauben konnte, dass in diesen Bauten Menschen hausen sollten.
Doch es musste so sein. Zumindest lag ein anhaltendes Stöhnen in der Luft, manchmal durchbrochen von verzweifeltem Schreien oder Husten, das klang als würde jemandem die Lunge aus dem Leib gerissen.

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