Kapitel 3

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Der hell erleuchtete Saal verschwamm vor Cecilias Augen. Noch nie hatte sie all das Weiß so sehr gestört, wie an diesem Abend.
Es war natürlich nicht die erste Party, die sie besuchte.
Nicht der erste 15. Geburtstag.
Und dennoch...
Langsam ließ sie den Blick durch den Saal gleiten, über die spielenden Kinder in ihren weißen Kleidern.
Sie konnte sich nicht entsinnen, ob sie sich jemals gefragt hatte, wie das Mädchen mit dem roten Gürtel, das doch eigentlich das Zentrum des Abends war, so zusammengesunken und nervös auf einem Stuhl sitzen konnte. Doch wenn sie es getan hatte, dann bot ihr dieser Abend die Antwort.
Es war die Angst.
Die Angst vor dem, was kam, wenn sie den seltsam knisternden Vorhang durchschritt, der inmitten der riesigen Halle gespannt worden war.
Was sie wohl dort erwartete?
Jamie hatte von Blut gesprochen, Schmerzen, Abenteuer...
Andererseits hatte sie den Vorhang schon ein halbes Dutzend Mal gesehen.
Wenn auch immer nur von der einen Seite.
Immer nur die Seite, auf der die Kinder in Weiß spielten, mit Tischen voller Desserts und der süßen Gewissheit, dass der Tag für sie enden würde, wie er begonnen hatte.

Cecilia hatte immer gehofft, dass diese Ungewissheit, was das Leben als erwachsene Frau mit sich bringen mochte, einen Reiz bereithielt. Etwas Spannendes.
Ein Geheimnis.
Ein Abenteuer.
Stattdessen hatte sie den Morgen damit verbracht zuzusehen, wie ihre persönlichen Sachen in ein anderes Zimmer geräumt wurden.
Das Zimmer, das einst ihrer Mutter gehört hatte, mit dem riesigen Ankleidezimmer, dem gewaltigen Himmelbett und den goldgesäumten Vorhängen, um die sie ihren Vater als Kind immer angebettelt hatte und die er doch niemals in ihr Zimmer hatte bringen lassen.
Ihr neues Zimmer.
Bis zu dem Tag, an dem sie heiratete und auszog, um ihre eigene Familie zu gründen, mit all dem Spielzeug, das in Kartons gepackt und auf dem Speicher verstaut worden war, für die Kinder, die sie haben könnte.

Laut Mrs. Mondego, der die große Ehre zuteil geworden war als Geistliche der italienischen Delegation die Messe an diesem denkwürdigen Tag zu lesen, würde sie welche haben. Viele Kinder, Schönheit, Glück, Weisheit und einige andere Dinge, die ihr entfallen waren, denn Predigten hatten sie noch nie wirklich interessiert und was sie vorgelesen hatte, war kaum der Rede wert gewesen.
Nichts weiter, als das, was sie auch an jedem anderen 25. Mai und jedem anderen 15. Geburtstag zu hören bekommen hatte.
Wie hatte sie ihre Freundinnen um die Gottesdienste beneidet, bei denen außer der Familie und den engsten Freunden niemand zusah, während sie, Cecilia Lancaster, das zweifelhafte Glück hatte, dass ihre ganze Siedlung samt der italienischen Delegation zugegen gewesen war, während sie gesegnet wurde.
1.400 Menschen vor denen sie sich blamiert hätte, wenn sie der Versuchung nachgegeben hätte an ihrem Kleid zu zupfen, in der Hoffnung, dass das dazu führen könnte, dass sie nicht mehr das Gefühl hatte, als wollte ihr die Unterwäsche, die sie wohl ab dem heutigen Tag tragen musste, den Brustkorb zusammendrücken.
Wenigstens hatte sie dieses ständige, unangenehme Gefühl, zusammen mit dem Wissen, wie enttäuscht ihr Vater sein würde, wenn sie die Familie blamierte, davon abgehalten einzuschlafen.

„Cecilia!" Müde hob die Angesprochene den Kopf und strich mit einer Hand die weißen Volants ihres Kleides glatt.
Weiß.
Noch immer Weiß, wenn auch eleganter, bodenlang, mit Volants, die den Rock bauschig und voluminös wirken ließen und, als einziges Zugeständnis an ihren großen Tag, mit einem breiten, roten Band um die Taille, das an ihrer Seite zu einer eleganten Schleife gebunden war.
Ein letztes Mal.
Ein letztes Mal die Farbe, die sie hatte tragen müssen, all die Jahre, die Farbe der unschuldigen, kleinen Kinder.
Eine Farbe so rein, dass niemand wagen würde, sie zu beflecken, ganz gleich ob in Gedanken, Worten, Taten.

„Mein kleines Mädchen!"
Mit einigen Schritten, begleitet von einem Keuchen, das Cecilia entfernt an das Schnauben ihres Ponys erinnerte, war ihre Tante Guinevere bei ihr, zog sie an sich und drückte sie an ihre in einem weit ausgeschnittenen Kleid zur Schau gestellte Brust. 
„Tante Genna.", murmelte Cecilia leise.
Sie machte sich nicht die Mühe von dem Namen abzuweichen, den sie ihrer Tante gegeben hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen war.
Damals war ihre Tante häufiger zu ihnen gekommen.
Offiziell, um die Arbeiten an einer Brücke zu überwachen, die sie konzipiert hatte, inoffiziell, um sich um die Kinder ihrer verstorbenen Schwägerin zu kümmern und noch inoffizieller, um ihrem Mann zu entkommen, da sie genau wusste, dass Mr. Edmund Finnigan lieber zurück nach Irland schwamm, als sich mit dem ältesten Bruder seiner Frau in einen geschlossenen Raum zu begeben.
„Du bist so groß geworden, mein Mädchen", lächelte ihre Tante, bevor sie sie mit einer Kraft, die Cecilia nicht erwartet hatte, die sie aber in Anbetracht der Statur ihrer Tante nicht verwundern sollte, auf die Füße zog.
„Dann wollen wir dich nach drüben bringen, meinst du nicht?"
Unsicher ließ Cecilia ihren Blick durch den Saal schweifen, über die Kinder, die auf dem Boden saßen und spielten oder auf den gepolsterten Stühlen eingenickt waren. Über ihre Freundinnen, die sie in ihren Gedanken nicht hatten stören wollen und ihr doch jedes Mal, wenn sie aufgeblickt hatte, ein ermutigendes Lächeln zugeworfen hatten, bis zu ihrer Tante, die in ihrem roten, goldgesäumten Abendkleid vor ihr stand, die elegant manikürte Hand nach ihr ausgestreckt.
Ausreden kamen ihr in den Sinn.
Warum sie nicht mit ihr kommen konnte.
Warum sie vielleicht doch noch keine junge Dame war.
Dass Weiß eigentlich gar keine so schlimme Farbe war und sie, wenn sie es sich recht überlegte, auch kein Rosa und Blau und Rot...
Hatte sie nicht Abenteuer gewollt?
Hatte sie ihren Bruder nicht angebettelt und gefleht, dass er ihr die Welt jenseits der Mauer zeigte?
'Wie kannst du das verlangen, Cecilia Lancaster, wenn du dich noch nicht einmal traust, durch einen Vorhang zu treten?'
„Hab keine Sorge, mein Kleines", lächelte ihre Tante ihr zu, der ihre Unruhe nicht verborgen geblieben war.
„Es tut auch nicht lange weh."

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