Kapitel I: Lebensmüde und Temperamentvoll

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Nervös strich ich mir durch die offenen, dunkelbraunen Haare und schluckte schwer.

Dieser Plan war verrückt.

Absolut Hirnrissig!

Total Übergeschnappt!

Und trotzdem saßen Jona und ich in seinem stickigen Pickup vor der umgebauten Lagerhalle. Schweigend beobachteten wir das dortige Treiben. Keiner von uns Zweien konnte sich dazu durchringen, den Schutz des Autos zu verlassen. Keiner wollte den ersten Schritt tun. Keiner wusste, was uns im Gebäude erwarten würde.

„Komm, lass uns das hinter uns bringen." Durchbrach mein Bruder die Stille, die sich ausgebreitet hatte, seit wir vor einer halben Stunde hier geparkt hatten. Jedoch machte er keine Anstalten auch nur ein Finger zu rühren, geschweige denn auszusteigen.

„Wir müssen das nicht tun. Wir können noch immer umkehren." Wandte ich hoffnungsvoll ein.

Verächtlich schnaubte Jona. „Und was dann? Woher willst du das Geld auftreiben, Lia? Er ist unsere einzige Chance, um die Krankenhauskosten überhaupt bezahlen zu können."

„Ich könnte die Woche häufiger nach der Arbeit auf den Markt gehen und meine flinken Finger trainieren. Ein Monat und ich hätte... "

„Und am Ende sitzt du im Knast, wo du keine Hilfe mehr sein wirst! Also Vergiss es!" Wurde ich unwirsch unterbrochen. „Ich werde meine Meinung zu deinem kleinen verbotenen Hobby nicht ändern. Diebstahl - Lia stricke lieber! Zur Hölle nochmal, das ruft wenigstens nicht die Cops auf den Plan!" Er schüttelte verständnislos den Kopf, als er mir mal wieder versuchte ins Gewissen zu reden.

Bei diesem Thema saßen wir jedoch seit unserer Kindheit in einer Dauerschleife fest, da weder er noch ich unsere jeweilige Meinung ändern würden und trotzdem immer wieder dem anderen unsere eigenen Gründe vortrugen.

„Und jetzt komm. Ich will das endlich hinter mir haben." Damit riss Jona die Fahrertür auf und stieg aus dem Pickup.

Zähneknirschend folgte ich ihm. Meine Idee war immer noch besser, als das, was wir jetzt vorhatten. Auf jeden Fall mussten wir dabei keinem anderen vertrauen, der uns möglicherweise hintergehen konnte.

Mit etwas zu viel Wucht schmiss ich die Autotür hinter mir zu. Das darauffolgende protestierende Scheppern verschaffte mir etwas Befriedigung, bevor ich hinter Jona her stapfte. Mein Blick richtete ich dabei stur auf seinen Hinterkopf. In seinen kurzen, verstrubbelten Locken, die die gleiche Farbe wie meine Haare aufwiesen, spielte ein sanfter Wind und zerzauste sie noch weiter.

Soweit ich mich erinnern konnte, hatte er es immer kurz getragen. Die Locken brachten einfach viel zu viel Ärger mit sich, wenn die Haare länger waren und Jona hatte keine Geduld dafür. Ich selbst kämpfte jeden Tag mit den meinen und konnte ihn daher gut verstehen. Jedoch war ich auch immer stolz auf meine dunkle Lockenbracht gewesen, weshalb ich mich einfach nicht dazu überwinden konnte, sie abzuschneiden.

Jetzt gerade aber interessierte mich seine Haare einen scheiß Dreck. Stattdessen versuchte ich ihm über Gedankenübertragung einzutrichtern umzukehren und in den Schutz unseres Autos zurückzukehren. Da so etwas leider unmöglich war, lief Jona einfach weiter, ohne auf mich zu achten. Echt ein „netter" Bruder.

Wir wurden nicht aufgehalten, während wir auf eins der großen, offenen Tore zusteuerten. Die wenigen - häufig - in Leder gekleideten Männer und Frauen an denen wir vorbeikamen, warfen uns nur neugierige Blicke zu, ehe sie sich wieder ihren Motorrädern oder Gesprächen zuwandten. Daher hatten wir schnell den Vorplatz überquert und uns umhüllte die angenehme Kühle des Lagerhauses. Nachdem sich meine Augen von dem grellen Sonnenlicht draußen an das trübe Licht in der Halle gewöhnt hatten, schaute ich mich interessiert um.

Er will sieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt