Das war der Moment der Entscheidung. Einer Entscheidung, von der Sioda immer geglaubt hatte, sie würde ihm einfach fallen. Nach dem Tod Arianwens war alles, was er sich gewünscht hatte, die Zeit mit ihr zurück zu haben. Als sich die Option präsentierte, genau diesen Wunsch wahr werden zu lassen, hatte für ihn der Entschluss festgestanden. Also warum? Warum zögerte er? Er hatte den Becher schon an den Lippen. Zu trinken wäre so einfach Warum tat er es nicht? Warum konnte er sich nicht zu dieser Entscheidung durchringen?Als würde er magisch angezogen werden, suchte sein Blick Lorcan. Der Niom lehnte sich gewollt lässig an dem Tisch hinter dem Kessel, die Füße überschlagen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt, als würde ihn die Situation nicht berühren. Dabei hatte er ihm gerade noch den Rücken gestärkt. Sioda spürte noch immer das Prickeln seiner Berührung. Doch jetzt gab er sich, als würde ihn nicht interessieren, wie Sioda sich entschied. Doch es interessierte ihn. Seine unruhig umherhuschenden Augen und der angespannte Zug um seine Lippen straften seine Nonchalance Lügen.
Irgendwie machte Sioda genau das glücklich. Sein Herz machte einen Hüpfer und er konnte das Lächeln, das sich über sein Gesicht legte, nicht aufhalten. Langsam senkte er den Becher. Er wollte es auch nicht. Denn eines konnte er nicht mehr leugnen, er war verliebt in diesen abenteuerlustigen, süßholzraspelnden, selbstbewussten Niom. Und das schon eine ziemlich lange Zeit, auch wenn er es sich nicht hatte eingestehen wollen. Diese letzten Tage zählten trotz Lorcans Verletzungen mit zu den schönsten in seinem Leben. Er würde sie um nichts auf Pangea missen wollen.
Mit einem Mal erwiderte Lorcan seinen Blick, als hätte er seine Gedanken gelesen. Die Angespanntheit verschwand aus seinen Zügen und er spiegelte sein Lächeln mit demselben liebevollen, aber leidenschaftlichen Glühen in seinem wunderschönen, blassblauen Auge, das Sioda in sich brennen spürte. Lorcan stieß sich von dem Tisch ab, beugte sich vor und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die Augenklappe verrutschte und ihr Anblick versetzte Sioda einen Stich. Arianwen ...
Oh, wie er sie vermisste. Und doch klangen diese Worte fast hohl in seinem Kopf, als wären sie nicht mehr wahr. Obwohl ihn das Gefühl, als würde sein Innerstes zerrissen werden, bewies, dass es nicht wahr war. Es traf zu, er vermisste seine Schwester und wollte sie zurück. Unbedingt! Um jeden Preis! Um wirklich jeden Preis? Er rief sich ihr Bild vor Augen, doch es verblasste bereits. Wie jedes Mal, wenn er das in letzter Zeit getan hatte. Jedes Mal ein bisschen mehr. Sioda blinzelte heftig, als er die Tränen in sich aufsteigen spürte. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und machte ihm das Schlucken schwer. Er wandte den Blick von Lorcan ab und sah dafür den Hormetos an.
„Denk dran, wenn du den Trank wirklich schluckst, dann wird deine Gegenwart und Vergangenheit komplett ausgelöscht, als hätte sie es nie gegeben und du kehrst zu jenen Punkt zurück, an den du denkst. All das Geschehene wird ausgelöscht. Personen, die du in der Zeit kennengelernt hast, vergessen dich und leben ihr Leben weiter, als hätten sie dich nie kennengelernt", erinnerte er ihn gestikulierend an die Wirkungen des Zaubertranks.
Sioda blickte auf den Becher in seinen Fingern. In dem durchscheinenden Violett spiegelte sich sein verzerrtes Gesicht und das flackernde Licht der Lichtlöckchen, die in einem einzelnen Glasbehälter auf der Decke schwirrten. Er spürte wie eine Träne sich löste, ihre heiße Spur über seine Wange zog, um anschließend in dem Becher zu landen. Der Tropfen schlug leichte Wellen, die sich kreisförmig ausbreiteten und mit einem Mal wusste er, was er wollte. Er hob den Becher an seine Lippen, hielt ihn knapp unter seine Nase, sog tief die Luft und den schwachen, säuerlichen Geruch der Ejeluro ein.
Diesen Geruch würde er nie vergessen. So wie er auch auf ewig Arianwens Duft in seinem Herz tragen würde. Und mochte auch ihr Bild langsam verblassen, die Erinnerung an sie blieb mit all seinen Gefühlen, die er mit ihr verband, in seinem Herzen verwurzelt.
Sie hätte ihm vermutlich aus dem Wortikosmos Befenja an den Hals gewünscht, weil er so lange in seiner Lethargie gefangen gewesen war und aus den Augen verloren hatte, was sie beide so sehr liebten: die Schatzsuche.
Sioda war ein Schatzsucher, der Abenteuer brauchte, der die Jagd nach dem nächsten Artefakt liebte und der das Glück hatte zwei perfekter Partner zu treffen, die das mit ihm teilten. Seine Schwester, die seine Vorsicht und Pläne mit ihrer Spontanität und Wildheit ergänzt hatte. Doch Arianwen schwamm nicht mehr auf Pangea. Sie wandelte in ihren unendlichen Weiten des Wortikosmos. Doch dafür hatte er nun Lorcan an seiner Seite, der ihm nicht nur ein Schiff garantierte, sondern ihn noch besser ergänzte. Wo er zu zögerlich war, preschte Lorcan vor. Wo Lorcan zu undurchdacht handelte, füllte er die Lücken mit seinen Gedanken. Wo Sioda zu ernst oder grüblerisch wurde, lockerte Lorcan die Situation auf. Ja, sie waren perfekt füreinander und Sioda wollte nichts an den Ereignissen ändern, die zu diesem Moment, dieser Erkenntnis geführt hatten.
Nach einem letzten Atemzug schritt er entschlossen auf den Tisch zu, stellte den Becher darauf und wandte sich zu Lorcan. Er baute sich vor ihm auf und fixierte sein Gesicht. Ganz langsam glitt sein Blick über jeden Zentimeter, nahmen jede noch so winzige Kleinigkeit auf, bis er sich an seinen Lippen festsog. Lorcan schluckte so schwer, dass die Erhebung in seinem Hals hüpfte. Sein Mund öffnete sich leicht. Sioda beugte sich ganz langsam vor, bis sie nur noch ein kleiner Spalt voneinander trennte. Seine Augen ließen die Lippen des Kapitäns noch immer nicht aus den Augen. Er spürte den Atem auf seinem Gesicht und ...
... zückte einen Kohlestift. Sioda drehte Lorcans Gesicht, bis sein Hals vor ihm lag und begann zu zeichnen. Lorcan entwich ein Stöhnen, das halb Enttäuschung, halb Vergnügen ausdrückte. Sioda verkniff sich ein Grinsen. Als er fertig war, dreht er Lorcans Gesicht wieder zu sich und pfiff: „Ich wähle dich. Du bist meine Gegenwart und sollst meine Zukunft sein."
Bevor Lorcan etwas erwidern konnte, senkte er seine Lippen auf die des Schatzsuchers. Die Wärme, die in seinem Körper explodierte und ihn schwindeln machte, war ihm Versicherung genug.
Er hatte die richtige Wahl getroffen.
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Hier endet die Geschichte mit Lorcan und Sioda offiziell fürs Erste. Ich betrachte das Ende mit einem stolz lachenden und einem weinenden Auge, weil ich einerseits die Geschichte beendet habe (und das die erste ist, die ich fertig gebracht habe) und andererseits, weil ich meine beiden Lieblinge fürs Erste verlassen muss, obwohl ich sie so sehr liebe.
Ich hoffe, ihr habt es genossen, fandet es nicht zu kitschig und verzeiht mir im Nachhinein jeden Herzschmerz, den ich euch bereitet habe.
In dem Sinne danke an euch alle, die sie und mich bis jetzt begleitet haben, kommentiert und geliked haben.
Ihr seid einfach toll!
Schönen Abend
Eure drachenelfe
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Wandernde Sucher
FantasyIn all der Unendlichkeit des Merajotidameeres gab es keinen glücklicheren Niom als Lorcan. Er hat alles, was er je vom Leben wollte: die Freiheit, die Weiten des Meeres zu erkunden, ein Schiff, das ihm ganz alleine gehörte und den besten Beruf überh...