Colyn
-zwölf Jahre alt-
Schweigsam stand sie vor mir.
So wie immer.
Stumm.
Reglos.
Emotionslos.
Das komplette Gegenteil meiner richtigen Schwester.
"Also, Pauline, möchtest du noch essen kommen, oder sollen wir dir -", fing ich an, doch sie unterbrach mich, indem sie sich an mir vorbei schob.
Ich seufzte leise.
Pauline würde sich wohl nie ändern!
Still, schweigsam und ... allein.
Kalt.
Abweisend.
Einfach fremd.
Ich ging ihr hinterher.
Langsam.
In der Küche blieb sie stehen.
Ich hingegen setzte mich einfach an den Tisch.
Gemeinsam mit meiner kleinen Schwester, meinem noch kleineren Bruder und meinen Eltern beobachtete ich sie.
Pauline stand einfach dort und sah uns an.
Keine Reaktion auf beiden Seiten.
"Pass auf sie auf.", sagte sie plötzlich zu mir.
Dann ging sie aus der Küche.
Ich war so überrascht, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte ...!
Erst Sekunden später realisierte ich, dass die Haustür zu knallte.
Leise fluchend stand ich auf und hastete ihr hinterher.
Als ich die Haustür aufriss, war alles Still.
Nur die in einiger Entfernung liegende Großstraße machte Lärm, zusätzlich zu den üblichen Waldgeräuschen.
Aber keine Pauline.
Weit und breit keine Pauline.
Meine Augen suchten den Waldrand ab, der nur wenige Meter entfernt von unserem Haus begann.
Keine Pauline.
Langsam trat ich auf den Wald zu, blieb wenige Schritte vor dem Waldrand stehen.
Irgendeine Stimme in meinem Unterbewusstsein mahnte mich, auch nur einen Schritt weiterzugehen.
Aber wer hört schon auf seine innere Stimme?
Im Nachhinein täte ich wohl besser daran...
Plötzlich wurden meine Schritte von mir und doch nicht mir weiter in den Wald gelenkt.
Irgendetwas zog mich an.
Oder, besser gesagt, meine Füße.
Nach und nach konnte ich ein Singsang wahrnehmen, leise und doch betörend, traurig und doch fröhlich, lockend und doch abstoßend, eingefroren und doch so voller Leben.
Magisch und doch normal.
Ein Gesang, so voller Gefühle.
Mit jedem Schritt wurde der Gesang lauter, mit jedem Meter deutlicher.
Wo bist du,
Wenn ich dich brauch?
Was machst du,
Wenn ich dich brauch?
Wann kommst du
Zu mir?
Wann hilfst du mir?
Wann helf ich dir?
Wann kommst du?
Wann baust du
Die Brücke mein?
Wann hilfst du
Mir über den Abgrund?
Wenn du da bist,
Helf ich dir.
Über deinen Abgrund.
Beim Schmelzen deines Eises.
Beim Löschen deines Feuers.
Beim Gefrieren deiner Flut.
Beim Entfachen deiner Wärme.
Beim Schützen deiner Lieben.
Beim Leben ohne Schmerz.
Beim Leben ohne Tod.
Wo bist du,
Wenn ich dich brauch?
Wo stehst du,
Wenn ich dich such?
Wo lebst du,
Wenn ich weitergehe?
Wann kommst du
Und rettest mich?
Wann?
Wenn nicht jetzt,
Dann wann?
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Einsame Träne - I can not without you
ParanormalWenn du am Abgrund stehst und keiner da ist, um dich aufzufangen, dann fühlst du dich allein. Verletzt. Du siehst all die Menschen, die noch nicht zum Abgrund gelangt sind. All die Menschen, die glücklich und nicht allein sind. Nur du hast niemanden...