Naomi
Jetzt bin ich also da.
In dem Internat.
Dem Internat der Alpträume...Eigentlich sieht es ja ganz friedlich aus.
Viel Grün.Aber ... es schränkt mich in meiner Freiheit ein.
Und das will ich nicht.
Sie ist das einzige, was mir geblieben ist.
Das Einzige.
Die Freiheit.Ich steige aus dem Auto aus, lasse die Tür zu knallen.
Sehe, wie der Mann leicht irritiert die Augenbrauen hebt.
Schultere meinen zerschlissenen Rucksack, welchen ich vor zehn Jahren gepackt hatte.Nichts hat sich verändert.
Nur der Inhalt.
Jetzt befinden sich größere Kleidung, welche sich nicht in der Anzahl verändert hat, Schulsachen, also Federtasche und Blöcke, ebenso fünf unterschiedliche Messer darin.
Und ein Schlüssel.
Der Schlüssel zu dem mittlerweile verbrannten Haus meiner Kindheit, der Zeit des Glücklichseins.Ich weiß, ab jetzt wird sich alles verändern.
Ich mache einen Schritt auf das Internat zu, schließe meine Augen.
Und mit diesem einen Schritt mache ich gleichzeitig zehn auf den stetig wachsenden Abgrund vor meiner Nase zu, dem Abgrund in meiner Seele, meinem Herzen.
Warum?
Meine Augen beginnen zu brennen.
Warum?
Will ich das überhaupt? Die sich nähernde Kante des Abgrundes?
Meine Antwort ist ein klares Nein. Aber da ist diese Stimme in mir, die das Gegenteil denkt. Die mir einflüstert, schlimmer als jetzt kann es nicht werden. Die behauptet, dort würden auch meine Eltern sein. Meine Eltern ... und Crell. Dass sie auf mich warten würden, dort unten, in der Finsternis. Und die zugleich behauptet, noch wäre der Weg nicht zu Ende. Noch habe ich Zeit.
„Mädchen, möchtest du nicht rein kommen? Du wirst ja noch ganz nass!", erklingt plötzlich eine glockenhelle, singende Stimme.
Erschreckt zucke ich zusammen und drehe mich um — hinter mir steht eine zarte Frau mittleren Alters.
Erst jetzt bemerke ich den Regen, der auf meinen Kopf prasselt, meine Schultern, meinen Körper hinab rinnt. Mein Blick wandert nach oben. Feine Tropfen kalten Regens versuchen, sich Eingang zu meinen Augen zu verschaffen, werden aber von meinen Wimpern abgehalten.
Ich richte meinen Blick auf die Frau. Ihr fröhliches Lächeln ist noch nicht verblasst.
Meine Antwort lässt auf sich warten.
Anhand dieser Pause kann ich förmlich ihr immer geringer werdendes Lächeln ablesen. Schließlich kommt sie zu dem Entschluss, dass ich ihr keine Antwort entgegensetzen möchte und auch nicht werde.
Nun ist es ganz verblasst.
Ihre Stimme dringt kalt an mein Ohr, genauso wie der Regen.
„Ich werde dir nun dein Zimmer zeigen!"
Ich höre ihre sehr freundliche Stimme, will sie überhören oder einfach ignorieren. Doch da ist etwas, irgendetwas, sei es eine Emotion, ein Ton, ihre Stimmhöhe. Ich weiß nicht, was es ist, aber es lässt mich zögern.
Ich lasse sie nicht aus den Augen, während sie harsch vor mir her schreitet.
Toller erster Eindruck, ganz ehrlich...
Wir erreichen das Gebäude, aber ich habe immer noch nur Augen für sie.
Woher kenne ich diese Stimme? Was kommt mir daran bekannt vor?
Sie dreht sich um.
„Hör auf zu starren, Mädchen!"
Schon wieder. Warum fällt es mir eigentlich erst jetzt auf? Davor hat sie doch auch schon Worte mit mir gewechselt.
Plötzlich durchfährt mich die Erinnerung, trifft mich wie ein Schlag.
Ein kaltes Grinsen.
Regen, so wie jetzt.
Einsamkeit.
Geflüsterte Worte. Direkt an meinem Ohr. Sie haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
Es ist alles deine Schuld...
Sie war da! Nach dem Tod ... nein, dem Mord meiner Eltern, Crells, sie war da. Auch als die Flammen über meinem Kopf in den Himmel stiegen, die Wände meines Elternhauses verschlangen, sie war da.
„Wer sind Sie?", frage ich emotionslos.
Ein gackerndes Lachen entfährt ihr, sie lacht, den Kopf in den Nacken geworfen.
dann kommt sie ganz langsam vor, beugt sich zu meinem Ohr hinab.
„Mädchen, es ist alles deine Schuld. Vergiss das nie!"
„Wer sind Sie?", wiederhole ich meine Frage.
Aus dem Augenwinkel sehe ich sie grinsen.
Genauso wie damals, höhnisch, kalt.
„Dein schlimmster Alptraum!"
Ihr Lachen begleitet mich auch nach ihrem plötzlichen Verschwinden, hallt in Luft und Raum wieder.
Ihr plötzliches Verschwinden ist genau wie damals. Damals war sie auch einfach weg, verschwunden, als hätte der Wind sie mitgenommen.
Ich weiß nicht, was ich denken, was ich fühlen soll.
Warum auch?
Nur die Ereignisse kommen in mir hoch, lassen meine Sicht kurz verschwimmen. Ich erinnere mich an den Tag, als Crell und ich beim Bäcker waren, es war ein sonniger Sonntag. Wir hüpften mit unseren bunten Gummistiefeln in den Pfützen der regnerischen Nacht umher. Ich weiß auch noch, dass es in der Nacht zuvor genauso wie jetzt geregnet hatte.
Damals war ich glücklich. Jetzt kann ich es nicht mehr sein. Ich weiß nicht, warum das so ist, nur, dass die Erinnerung schmerzt.
Wie ist das Gefühl von Glück, von Freude? Kenne ich es vielleicht doch? Aber ... wenn ich dieses Gefühl an mich ran ließe, würde ich mich selbst zerstören.
Nicht nur mich selbst, dir Erinnerung an Crell. Meine Eltern und Crell.
Seit damals kann ich nicht mehr glücklich sein.
Nie mehr.
Dieses Kapitel wird bis zu unserer Lesenacht an Silvester vorerst das letzte sein. Auf jeden Fall wird die Geschichte jetzt hauptsächlich in diesem Internat stattfinden, ihr habt davon (vielleicht) schon in WolfShiranuis Geschichte 'Kalt wie Eis - Warum?' gelesen.
Bis Silvester!
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Einsame Träne - I can not without you
ParanormalWenn du am Abgrund stehst und keiner da ist, um dich aufzufangen, dann fühlst du dich allein. Verletzt. Du siehst all die Menschen, die noch nicht zum Abgrund gelangt sind. All die Menschen, die glücklich und nicht allein sind. Nur du hast niemanden...