Prolog

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Der Wind fegte durch die flache Landschaft, und die wenigen Bäume bogen sich zur Seite. Am Rand eines kleinen Dorfes lag, ein wenig versteckt hinter Büschen, das Waisenhaus. Nein, Waisenhaus war der Falsche Begriff. Heutzutage vermied man es, diesen antiquierten Begriff zu verwenden. Er schrie förmlich nach Vernachlässigung, Prügel und trockenem Katholizismus. Heutzutage nannte man das „Wohngruppe". Die Kinder hier waren alle deutlich älter, zu alt um auf eine Adoption zu hoffen. Wahrscheinlich auch zu desillusioniert.

Man hatte sie in den kleinen Gruppen auf dem Land verteilt. Fernab von allem, was in Großstädten so lauerte, sollten sie aufwachsen. In einer behüteten Welt ohne Drogen und Kriminalität. Allerdings wirkten sie wie Fremdkörper in dem sonst so gesitteten Leben der Dörfler. Sie gehörten nicht dazu. 

Am anderen Ende des Dorfes gab es ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche, sodass alle fremden Kinder von den Dorfbewohnern nur „die Knackis" genannt worden. War mal irgendein Haus demoliert worden, oder in die kleine Schule eingebrochen, dann mussten da die Knackis am Werk gewesen sein. So erzählte es man sich mit einem beiläufigen Schulterzucken beim Bäcker, und ging wieder zur Tagesordnung über.

Von den Kindern gefürchtet, von den Erwachsenen ignoriert, von den Rentnern mit „Die Jugend von heute" beschimpf, fristeten sie ihr Dasein in absoluter Langeweile. Kein Wunder, dass die Heimkinder nur auf dumme Gedanken kamen. Die meisten würden ihr Leben lang Außenseiter bleiben.

An diesem stürmischen Herbsttag sollte sich aber zumindest für ein Kind eine große Chance auftun. Nicht unbedingt auf ein besseres Leben, aber auf eine Flucht aus der Einöde. Ein kleines Auto mit fremdem Kennzeichen schlängelte sich über die schmale Straße auf das Heim zu.

Eine Fremde stieg aus. Ein paar der Kinder kickten im Vorgarten und warfen der elegant gekleideten Frau neugierige Blicke zu. Doch diese schien sich nicht im Geringsten für sie zu interessieren. Mit schnellen Schritten bewegte sie sich auf die Tür zu. Grüne Farbe blätterte von der Tür. Auch das Klingelschild hatte schon bessere Tage gesehen. 

Die Heimleiterin öffnete, und ließ die Fremde etwas zögerlich ein. Sie zogen sich in das vollgestellte Büro des Heimes zurück. „Kaffee?", bot die Leiterin halbherzig ein, doch die Fremde schüttelte den Kopf. „Ich will nicht lange bleiben, lassen sie uns direkt zur Sache kommen. Ist sonst noch wer im Haus?", erkundigte sie sich. „Nein, nur die Kinder.", erklärte die Heimleiterin. „Gut." Ein zufriedenes Lächeln schob sich auf das Gesicht der Fremden. „Ich muss mit ihnen über vertrauliche Dinge reden."

Was die beiden Frauen nicht wussten war, dass ein paar der älteren Kinder ein Babyphon in einem der Aktenschränke versteckt hatten. Sie wurden belauscht. In dem kleinen Bad in der ersten Etage drängte sich eine Horde Teenies um das Gegenstück der Wanze.

Der Älteste von ihnen, ein großer Junge mit mausbraunen Haaren, hockte auf dem Rand der Badewanne und hielt das Gerät in den Händen. Um ihn hatten sich die anderen Kinder in einem Kreis hingekauert und spitzen die Ohren.

„Die ist bestimmt von der Schule!", rief ein blondes Mädchen „Chantal ist wieder mit Torben im Busch erwischt worden." „Ne du wurdest mit Dennis in der Dusche erwischt", krähte Chantal zurück. 

„Ihh, nicht der, der isst seine eigenen Popel" Die beiden Mädchen begannen sich zu beschimpfen und rangelten miteinander. Dabei fiel ein Zahnputzbecher auf den Boden „Schh! Haltet mal alle eure Fressen!", zischte der älterer Junge, und augenblicklich wurden die Mädchen still.

Es knackte aus dem Babyphon. „Wie macht sie sich in der Schule?", drang die Stimme der Fremden aus dem Gerät. 

„Ach...was erwarten sie denn?", hörte man die Heimleiterin sagen. Ein matter Tonfall lag in ihrer Stimme. 

Das Geheimnis der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt