(1) Von Glühwein und Zivilcourage

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Abrupt bleibe ich stehen, als die scheinbar endlosen Treppen der Berliner U-Bahn Station in mein eingeschränktes Sichtfeld rücken.

Zu abrupt für meinen ebenfalls beeinträchtigten Gleichgewichtssinn, wie es scheint.

Prompt taumele ich, meine Sicht verschwimmt und ich beginne, wie wild mit meinen Armen in der Luft herum zu rudern.
Mein Hinterkopf ist schon so gut wie auf dem Weg gen siffigen U-Bahn- Boden, da bekomme ich im letzten Moment etwas zu packen, an dem ich stabilisieren kann.
Ein Dankesgebet dafür in den Himmel schickend, dass meine frisch gewaschenen Haare einer Bekanntschaft mit den ekelhaften Fliesen unter meinen Füßen so knapp entkommen sind, schließe ich kurz meine Augen.

»Hey, man! Spinnst du?«

Die Stimme ist laut, männlich und scheint aus meiner unmittelbaren Nähe zu kommen. Km nächsten Moment wird mir der Gegenstand, an den ich mich eben noch geklammert habe, ruckartig entrissen. Glatt lege ich mich ein zweites Mal fast auf die Nase, werde aber rechtzeitig am Oberarm gepackt und unsanft zurück in die Vertikale gezogen.

»Gott, Mädchen, ey.«

Fünf Finger bohren sich unangenehm fest in mein Fleisch, und ich stöhne auf. Zugegebenermaßen mehr aus Überraschung als aus echtem Schmerz.
Sofort lockert sich der Griff um meinen Arm.

Als sich meine Sicht langsam wieder klärt, blicke ich direkt in ein Paar haselnussbraune Augen, umrahmt von einem dunklen Wimpernkranz. Ein paar Sekunden lang starren mein Gegenüber und ich uns an, dann scheint uns beide gleichzeitig die Erkenntnis zu ereilen, dass wir uns unangenehm nahe sind.

Während mein er meinen Arm loslässt, trete ich einen Schritt zurück - langsam und sehr bedacht diesmal.

Mit ausreichend Abstand nehme ich die Person vor mir in Augenschein.
Vor mir steht ein Mann, vielleicht ein paar Jahre jünger als ich, dafür aber mindestens einen halben Meter größer. Genau wie mir steht ihm der Schreck ins Gesicht geschrieben, und in einem Moment unangenehmer Stille schauen wir uns einfach nur an, schwer atmend und mit weit aufgerissenen Augen.

Ich fange mich als erstes wieder.

»O-Oh .. Oh mein Gott, es tut mir so leid!«, stammele ich, während ich beginne, mich innerlich für den letzten Glühwein aufs Schlimmste zu verfluchen. »Ich hab einfach das Gleichgewicht verloren und nach dem nächst besten gegriffen! Oh mein Gott, habe ich dir weh getan?«

Es dauert noch ein paar Sekunden, bis sich auch mein Gegenüber von dem Schock erholt. Der erschreckte Gesichtsausdruck weicht einem gönnerhaften Grinsen.

»Kein Stress, ist nichts passiert. Oh man, ich habe schon gedacht, du hast es auf mein Leben abgesehen, als du nach meiner Kapuze gegriffen hast.« Er verringert den Abstand zwischen uns wieder, den ich soeben erst zwischen uns gebracht habe. »Kann ich ja von hinten nicht sehen, dass mich da ein laufender ein-Meter-fünfzig angreift, man.«

Ein sechzig, korrigiere ich in Gedanken. »Sorry nochmal.«

»Wie gesagt, alles gut. Kannst mir ja mal einen Kaffee ausgeben, wenn du ein schlechtes Gewissen hast.« Der Mann tritt noch einen Schritt auf mich zu und dringt damit eindeutig in meine Komfortzone ein. Unwillkürlich weiche ich vor ihm zurück, bis ich mit dem Rücken an eine Wand stoße. Erleichtert lehne ich mich dagegen und gönne meinem alkoholisierten Hirn eine kleine Pause.

»Äh, ja, klar. Mal sehen.« Ich verziehe das Gesicht, während meine Augen zurück zu der Treppe vor mir wandern. Eine nette Nebenwirkung des Alkohols ist, dass mir der Vorfall weitaus weniger peinlich ist, als er es wahrscheinlich sollte.

(zivil-) courage - felix lobrechtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt